An(ge)dacht zum Karfreitag am 29. März 2024

Was kann ein Mensch aushalten?

Diese Frage bewegt. Sie bewegt, wenn wir auf die Krisengebiete diese Erde blicken. Sie bewegt, wenn wir auf Menschen blicken, die Krieg und Menschenrechtsverletzungen ausgeliefert sind. Sie bewegt, wenn Menschen seelischer Gewalt ausgesetzt sind. Sie bewegt, wenn ich auf das persönliche Leid mancher Menschen blicke. Schicksalsschläge, der Verlust geliebter Menschen, Krankheiten, Arbeitslosigkeit, Streit, Hilflosigkeit, all das erleben Menschen, die ich kenne und die mir wichtig sind.
Was kann ein Mensch aushalten? Die Frage bewegt auch, wenn wir auf Jesus blicken. Der Blick auf das Kreuz, an dem Jesus einen grausem Tod stirbt, entsetzt. Kann ein Mensch ohne aufzubegehren, es aushalten, so gequält zu werden? Kann ein Mensch körperliche und seelische Folter ertragen, ohne nach einem Ausweg zu suchen?

Als sie ihn verspottet hatten, zogen sie Jesus den Mantel aus und zogen ihm seine Kleider an und führten ihn ab, um ihn zu kreuzigen.
Und als sie hinausgingen, fanden sie einen Menschen aus Kyrene mit Namen Simon; den zwangen sie, dass er ihm sein Kreuz trug. Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und als er’s schmeckte, wollte er nicht trinken.
Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. Und sie saßen da und bewachten ihn. Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König.
Und da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz!
Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben. Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn.
Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren. Und von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. Die andern aber sprachen: Halt, lass sehen, ob Elia komme und ihm helfe! Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.
(Matthäus 27,31-50)

Herzlosigkeit, Missachtung aller Menschlichkeit, Spaß an Folter und Spott. Jesus hat es erlebt, und Menschen erleben es heute. Es gibt so viele Menschenrechtsverletzungen, so viel Hass, so viel Rücksichtslosigkeit und Desinteresse aneinander. In ihnen wird Jesus jeden Tag wieder neu gefoltert und ans Kreuz geschlagen. In jeder Not, die Menschen heimsucht, ist das Leiden Christi zu entdecken.
Wie kann ein Mensch das aushalten? Warum greift Gott nicht ein? Oder müsste ich fragen: Warum greifen wir Menschen nicht ein? Es ist wohl so: Schnell sind wir verzagt, voller Furcht, dass auch uns ein Unglück zustoßen könnte. Wir wollen uns lieber nicht einmischen.
Und die Menschen, die leiden? Was ist mit den Menschen, die aushalten müssen, was wir nicht verhindern können oder wollen? Wo sehen sie ihre Hilfe? Verzagen sie oder haben sie Hoffnung?

Jesus am Kreuz ist verzagt. Doch er hat seine Verbundenheit mit Gott nicht verloren. Er hält an Gott fest, voller Vertrauen. Er fürchtet zwar, Gott könne ihn verlassen haben. Und das ist nur zu verständlich. Aber er hält fest. Er geht den Weg zu Ende, der ihm aufgebürdet ist. Jesus, eine gequälte, geschundene Kreatur am Kreuz. Konnte er sich darauf verlassen, dass Gott sein Leiden und Sterben annimmt? Konnte er sich auf ein gutes Ende verlassen?
Wie sehr müssen gequälte und geschundene Menschen in Jesus einen Leidensgefährten sehen! Denn wie sollte Jesus, der so litt, ihr Leid nicht kennen? Ist für diese Menschen Jesus der Rettungsanker, der, auf den sie sich verlassen wollen und können?
Gott hat sich über seinen Sohn erbarmt. Jesu Tod war nicht vergeblich. Jesu grausamer Tod am Kreuz hat frei gemacht von allem, was von Gott trennt. Und Gott hat seinen Sohn nicht im Tod gelassen. Er hat ihn von den Toten auferweckt. Der Tod ist besiegt, es gibt ein neues Leben bei Gott.
Noch etwas wird im Leiden und Sterben Christi deutlich: Wir können uns im tiefsten Leid Jesus nahe fühlen. Der, der so litt, weiß um alles menschliche Leiden. Christi Weg bis zum Kreuz und sein grausamer Tod zeigen eine besondere Verbundenheit, die zwischen Christus und uns Menschen besteht. In allem, was Menschen belastet, in allem, was unerträglich ist, gibt es diesen besonderen Zusammenhalt, diese Solidarität, die Mut macht, die hilft, seelischen oder körperlichen Druck auszuhalten und Belastungen zu tragen und durchzustehen. In dem Elend dieser Welt gibt es diesen zuverlässigen Halt. Jesu schrecklicher Tod am Kreuz ist Rettungsanker in den dunkelsten Augenblicken des Lebens und ein Zeichen der Hoffnung.

Einen gesegneten Karfreitag!
Ihre Pastorin Annette Beer

(Abbildung: Chorfenster in der St. Johanniskirche in Herford)