Das Evangelium von der Ehebrecherin, die niemand verurteilte. Geschrieben im Johannes – Evangelium Kapitel 8
Was war geschehen?
Der Kreislauf der Selbstverständlichkeiten war durchbrochen worden.
Verständlich ist es, dass es ein Gesetz gibt, das die Welt und den Gang der Dinge behütet.
Das Gesetz damals verlangte die Treue in der Ehe – zumindest von den Frauen.
Das Gesetz war nicht falsch oder dumm, denn es gibt kein Zusammenleben in Frieden ohne Regelung der Sexualität. Mit dem Verstoß gegen das Gesetz ist das geordnete Leben in Gefahr. Die Vergebung, die Christus der Frau zusprach bedeutete nicht: es ist alles nicht so schlimm, darum wollen wir darüber hinwegsehen. Es war schlimm, und Vergebung ist erst dort wichtig und notwendig, wo die Störung des Lebens groß ist. „Die Vergebung verzeiht nur das Unverzeihbare.“ (J. Derrida) Die, die jene Frau zu Jesus brachten, waren nicht ein Haufen rachsüchtiger Kerle; sie wollten das Leben von allen schützen. Und die sichtbare Strafe, das vergossene Blut der gesteinigten Frau sollte die Ordnung des Lebens wieder herstellen. Es handelte sich nicht um pure Rachsucht der damaligen Gesellschaft, es handelte sich hier auch um die Sorge um die Lebensordnung, die dieses Gesetz so hart und unerbitterlich machte. Man muss das verstehen, um zu verstehen, wie unerhört die Vergebung Christi war, die er der Frau zusprach.
Christus sagte an jenem Tag nicht, dass die Männer Unrecht hatten, oder dass
das Gesetz falsch war. Er sagte: Werft eure Steine. Aber anfangen soll der, der ohne Sünde ist.
Und die Männer gingen weg. Dies ist auch eine Form der Vergebung – ihrer Vergebung:
Sie gingen weg, sie bestanden nicht auf die Reinigung ihrer Welt durch die Steinigung. Sie hatten in der Begegnung mit Christi etwas gelernt – sogar die Ältesten – die es am wenigsten gewohnt waren umzulernen. Sie vergaben und lebten mit dem Bruch der Ordnung. Christus hatte ihnen einen Satz gelehrt, der Grundsatz aller Vergebung ist:
Steinigen kann nur der, der ohne Sünde ist. Mit diesem Satz hat er ihnen alle Steine aus der Hand genommen. Denn wer ist ohne Sünde? Blicken wir noch einmal auf diese Frau: Wir wissen wenig über sie. Sie stand da in ihrer Angst vor den Männern, die das Gesetz so gut kannten. Sie hörte ihre Auseinandersetzung mit Christus. Sie hörte den Freispruch Christi: „Auch ich verurteile dich nicht!“ Ich möchte wissen, ob sie diesen Freispruch hat annehmen können. Es ist nämlich nicht leicht, sich vergeben zu lassen. Man muss sich selber aus der Hand geben, und man ist nicht mehr Meister seiner selbst, man ist ein angewiesener Mensch. Es gehört zur Bitte um Vergebung die Fähigkeit, der eigenen Schuld ins Auge zu sehen, und es aufzugeben, sich zu rechtfertigen.
Und es gehört ein hohes Selbstbewusstsein dazu, sich selbst als schuldig zu benennen und zu bekennen. Mit ungläubigen Erstaunen stellte die Frau fest, dass niemand sie verurteilt hatte, weder die Ältesten noch Jesus. Sie nahm ihr Urteil, das ein Freispruch war, an. Auch dazu gehört Kraft, die Freisprüche anzunehmen und zu wissen, dass der Bann der Schuld gebrochen ist.
Der Christus dieser Geschichte ist der Sohn der Gnade. Er, der ohne Sünde ist und den ersten Stein werfen könnte, wirft keine Steine. Es ist bei ihm anders als bei den Ältesten. Wer vergibt, schlägt nicht mehr. Wer um Vergebung bittet und Vergebung annehmen kann, hat vorher schon
die Waffen aus den Händen gelegt. Wer vergibt und Vergebung annehmen kann, ist in seinem Glaubensleben erwachsen geworden.
Amen
Pfarrerin Gabriele Steinmeier