„Sie kreuzigten Jesus und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte.“ So kurz, so ohne Emotionen wird im Johannesevangelium die Kreuzigung Jesu geschildert. Jesus stirbt einen qualvollen Tod, er wird ans Kreuz genagelt. Das ist ein furchtbares und schreckliches Geschehen. Für mich ist dieses Ereignis nicht ohne Emotionen möglich. Ich bin geschockt und gleichzeitig tief angerührt, dass Jesus diesen Weg geht.
Bis zu dem entscheidenden und erlösenden „Es ist vollbracht“ muss Jesus Unmenschliches ertragen. Körperliche und seelische Verletzungen muss er erdulden. Er wird gefoltert und verspottet, verhört und beschuldigt. Dann ist das Todesurteil gesprochen, und Jesus soll am Kreuz den Tod finden.
Jesus verhält sich in diesem grausamen Geschehen souverän und königlich. Unbeirrt geht er den Weg, den Gott, sein Vater, für ihn bestimmt hat. Bei keinem anderen Evangelisten wird das so deutlich wie bei dem Evangelisten Johannes. Bei ihm geht Jesus als König seinen Weg. Er ist der aktive, der die Dinge letztlich vorantreibt, damit sie zu einem Ende finden und erfüllt wird, was vorherbestimmt ist.
Auch jetzt auf der Schädelstätte, auf Golgatha, geschehen Dinge, die einen Sinn und ein Ziel haben. Jesu Leiden und Sterben, aber auch die vermeintlichen Äußerlichkeiten, – die Tafel, die am Kreuz befestigt wird, die Kleidung, die verteilt wird, die Worte, die noch gesprochen werden – alles hat einen Sinn. So wird es im Johannesevangelium vermittelt.
Ich gehe den Ereignissen auf Golgatha nach:
Da ist die Aufschrift auf der Tafel, die am Kreuz Jesu befestigt wird. Es war damals römische Sitte, dass der Verurteilte auf dem Weg zu Hinrichtung eine Tafel umgehängt bekam. Auf dieser Tafel war angegeben, wessen er sich schuldig gemacht hatte. Pilatus lässt auf diese Tafel schreiben: Jesus von Nazareth, der König der Juden. Das stößt auf Protest. Das ist nicht wie eine Anklage formuliert. Ganz im Gegenteil: Das sieht wie ein Ehrentitel aus. Die Hohenpriester sind empört und versuchen Pilatus zu überreden, die Aufschrift zu ändern: „Schreibe nicht: Jesus von Nazareth, der König der Juden, sondern dass er behauptet hat: Ich bin der König der Juden. So sieht es ja aus, als würde die Tafel nicht die Schuld angeben, sondern einen Titel anzeigen.“ Doch Pilatus lässt sich nicht darauf ein: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben“.
Jesus von Nazareth, der König der Juden: Ja, es ist ein Titel. Ich verstehe ihn als Ehrentitel. Als König, als Messias kommt Jesus zu den Menschen und als Messias stirbt er am Kreuz. So zeigt diese Tafel an, wer Jesus wirklich ist: Ein König, Gottes Sohn, der für uns Menschen da ist, der für uns gelitten hat und gestorben ist, damit wir leben.
Pilatus hat bewusst oder unbewusst einen Ehrentitel auf die Tafel schreiben lassen.
Es war auch römische Sitte, die Kleider des Verurteilten unter sich aufzuteilen. Und so werden auch Jesu Kleider verteilt. Die Soldaten nehmen die einzelnen Kleidungsstücke Jesu und machen vier Päckchen davon. Das Untergewand aber, das Jesus getragen hat, ist besonders, denn es ist in einem Stück gewebt, keine Naht findet sich daran. Die Soldaten erkennen, dass es ein kostbares Stück ist und beschließen, damit es gerecht zugeht, das Gewand zu verlosen.
In Psalm 22 heißt es: „Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand.“ So dichtet der Psalmdichter schon lange bevor die Soldaten Jesu Kleidung unter sich verteilen und sein Gewand verlosen. Damit wird der Psalm wahr und eine Verheißung erfüllt sich.
Jesus war in seiner Sterbestunde nicht allein. Unter dem Kreuz standen nach dem Evangelisten Johannes fünf Personen: Seine Mutter und sein Tante, außerdem Maria von Magdala, Maria, die Frau von Klopas und der Jünger, von dem es heißt, dass Jesus ihn lieb hatte. Jesus ist nicht allein, Gott sei Dank. Wir erwarten, dass diese Menschen Jesus stützen, für ihn beten, für ihn da sind. Doch selbst in dieser qualvollen Stunde ist Jesus der, der etwas tut. Er sieht seinen Lieblingsjünger unter dem Kreuz stehen und er sieht seine Mutter und er sagt zu Maria, seiner Mutter: „Siehe, das ist dein Sohn“, und zu dem Jünger sagt er: „Siehe, das ist deine Mutter.“
In dieser leidvollen Stunde, in der wir erwarten, dass Jesus völlig mit sich selbst beschäftigt ist, sieht er die Menschen und regelt Dinge. Er will, dass seine Mutter versorgt ist. Die beiden sollen wie Mutter und Sohn in einer Familie zusammenleben. Trotz seiner Schmerzen, trotz seines Todeskampfes ist Jesus in der Lage, den Menschen, die er liebt zu zeigen, wie wichtig sie ihm sind. Und wieder wird sichtbar, wie königlich, wie souverän Jesus ist.
Jesus weiß, dass nun alles geregelt ist, sein Auftrag ist erfüllt, er darf sterben. Doch noch einmal erfüllt sich eine Verheißung aus den Psalmen: Jesus bittet um etwas zu trinken. Und die Soldaten stecken einen Schwamm auf einen Stab, ein Ysoprohr, und tauchen den Schwamm in Essig. Weinessig oder saurer Wein ist das übliche Getränk der Soldaten. Es stillt wunderbar den Durst. Die Soldaten geben mit Hilfe des Schwamms auf dem Stab Jesus zu trinken.
Im Psalm 69 heißt es: Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken für meinen Durst. So wird auch diese Verheißung wahr, als Jesus um etwas zu trinken bittet.
Drastisch und eindrücklich, unmenschlich und unerträglich ist das Geschehen am Kreuz. Warum? frage ich mich. Begreifen wir Menschen es besser, wenn es besonders hart und erbarmungslos zugeht? Brennt sich die Wahrheit dann tiefer ein? Welche Wahrheit? Dass ich ein Mensch voller Fehler und Verfehlungen bin? Oder, dass ich ein Mensch bin, der durch Christus frei ist?
Jesus spricht die entscheidenden und erlösenden Worte: „Es ist vollbracht“.
Es ist vollbracht: Jesus siegt, der Kampf ist ausgestanden. Alle Schuld ist vergeben, wir sind erlöst und frei vom ewigen Tod. Jesus geht für uns in den Tod. Christus nimmt unsere Schuld und unser Versagen auf sich, damit nichts mehr zwischen Gott und uns Menschen steht. Nichts trennt uns Menschen von Gott und seiner Liebe. Jesus ist der Held, der mit großer Macht siegt und den Kampf für uns abschließt.
In der Johannespassion von Johann Sebastian Bach singt der Bassist eine Arie, die sagt, welchen Sieg Christus errungen hat:
Mein teurer Heiland lass dich fragen,
da du nunmehr ans Kreuz geschlagen
und selbst gesagt: Es ist vollbracht!
Bin ich vom Sterben frei gemacht?
Kann ich durch deine Pein und Sterben das Himmelreich ererben?
Ist aller Welt Erlösung da?
Du kannst vor Schmerzen zwar nichts sagen,
doch neigest du das Haupt und sprichst
stillschweigend: Ja!
Amen.
Einen gesegneten Karfreitag!
Ihre Pastorin Annette Beer
(Bild: Kreuz in der Münsterkirche in Herford)