An(ge)dacht zu Palmarum am 10.4.2022

Der Weg durch die Karwoche

Das Bild zeigt ein bronzenes Kreuz, das früher auf einem Grabstein befestigt war. Dynamisch steht es auf der hellen Fläche. Es ist anders, als wir es von anderen Kreuzen kennen. Nur eine einzige Linie ist annähernd senkrecht. Keine Linie ist wirklich waagerecht. Leicht gebogen und zu einer Seite auslaufend verjüngend schneidet der Querbalken unsymmetrisch den Kreuzesstamm. In dem Kreuz erkennen wir eine Figur. Angedeutet nur in wenigen Umrissen, als Fläche dargestellt. In der Haltung untypisch für einen Gekreuzigten hat die Figur ihrerseits eine dynamische Bewegung, die die des Kreuzes verstärkt und an einen Wegweiser erinnert.

Jesus nahm aber zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: „Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem!“ Er steht seinen Jüngern gegenüber. Jesus bittet um Aufmerksamkeit. Er gibt ihnen ein Zeichen, dass sie sich auf ihn konzentrieren sollen. Er will ihnen etwas Wichtiges mitteilen. Jesus weist seinen Jüngern den Weg, der vor ihnen liegt: „Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem!“

Aber er sagt ihnen auch noch mehr. Er weist nicht nur den geographischen Weg, sondern vor allem auch den inhaltlichen Weg. Er weiß, was auf ihn zukommt. Er weiß, welchen Weg er gehen wird und gehen muss. Er sagt: „Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem! Und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen.“

Aber die Jünger verstanden nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie begriffen nicht, was damit gesagt war. Sie stehen vor dem Wegweiser und wissen nicht, was er bedeutet. Sie hören Jesus, sehen seine Hinweise, können sie aber nicht lesen.

Nun stehen wir vor diesem Kreuz, dass auf den ersten Blick, wie ein Wegweiser wirkt. Wir sehen die angedeutete Figur, die um Aufmerksamkeit bittet und die Richtung vorgibt. Verstehen wir diese Richtungsangabe?

Dieses bronzene Kreuz ist anders und doch ist es eindeutig ein Kreuz wie wir es von so vielen Abbildungen und Skulpturen kennen. Es ist ein Kreuz, aufgerichtet, damit jemand daran stirbt. Ein Kreuz als Symbol des Todes, wie es so viele heute auf unseren Grabsteinen gibt, wie es in Todesanzeigen und an vielen anderen Stellen verwandt wird. Ein jedes Kreuz zeigt so einen Todesfall an.

Es ist aber auch ein Kreuz, wie so viele von den römischen Machthabern aufgerichtet wurden, wie sie einzeln oder in Gruppen und manchmal sogar zu hunderten aufgerichtet wurden, um Menschen hinzurichten. In der Welt zur Zeit des Neuen Testamentes waren solche Kreuze grausame aber unausweichliche Realität.

Konisch läuft dieses Bronzekreuz nach unten hin zu. Es wirkt, obwohl es ja an der Wand hängt, als ob man es fest in den Boden gerammt hat oder wenigstens rammen könnte. Fast erinnert die Form an den stilisierten Kopf einer Spitzhacke. Das Kreuz ist aufgerichtet, damit der, der daran hängt, langsam zu Tode gequält wird.

Jesus wurde ans Kreuz genagelt und istmit dem Kreuz und durch das Kreuz erhöht worden. Jesus ist auf Golgatha erhöht über Jerusalem, um dort zu sterben. Er stirbt am Kreuz erhöht einen grausamen Tod. Wir können uns wohl kaum mehr vorstellen, wie brutal und grausam diese Todesart ist. Wir können uns wohl kaum mehr vorstellen, welche Leiden ein Mensch am Kreuz ertragen muss. Das Kreuz war die Strafe für die schlimmsten Verbrecher. Es war die Strafe für Terroristen, wie sie ja zu den Seiten Jesu gekreuzigt wurden. Wer am Kreuz starb, der hatte normalerweise schon einiges verbrochen.

Und nun hängt Jesus an einem solchen Kreuz. Er ist angeklagt und verurteilt worden. Seine Jünger haben ihn alleingelassen. Er ist gefoltert worden. Und schließlich hat man ihn draußen vor der Stadt an das Kreuz genagelt. Dort hängt er nun, ein Bild der Qualen und Leiden. Nun ist eingetreten, was Jesus seinen Jüngern angekündigt hat. Er ist den Heiden überantwortet worden. Er wurde verspottet und misshandelt und angespien. Sie haben ihn gegeißelt und getötet.

Auf diesem Bronzekreuz ist, fast unsichtbar, doch als klare Kerbe eindeutig die Seitenwunde Jesu dargestellt. Hier hängt also der getötete Jesus, dessen Tod der Hauptmann durch den Lanzenstich bestätigt und bezeugt hat.

Dieses bronzene Kreuz weist mit seiner Bewegung aber nicht nur nach unten, sondern mindestens so sehr nach oben. Es macht einen in die Höhe wachsenden Eindruck. Hier nehmen wir eine Bewegung wahr, die ganz deutlich aufsteigend ist. Dann hat auch der Querbalken so gar nichts Lastendes mehr, sondern nimmt die Bewegung auf.

Verstärkt wird dieser Eindruck durch die angedeutete Figur. Sie scheint im Kreuzraum geradezu zu schweben. Sie ist höher als es für eine Kreuzigungsdarstellung üblich ist. Der Kopf ragt weit über den Schnittpunkt von Stamm und Querbalken hinaus. Zwar ist der linke Arm im Querbalken, aber der rechte ist hoch erhoben. Er geht bis an den oberen Rand des Kreuzesstammes. Er hat sich von seiner Befestigung am Kreuz gelöst. Die ganze Figur hat alles Hängend, alles Schwere hinter sich gelassen. Sie schwebt heraus aus dem engen Raum des Kreuzes, der uns ein bisschen an einen offenen Sarg oder an ein offenes Grab erinnert.

Wenn wir uns jetzt vor Augen führen, dass dieses Kreuz ein altes Grabkreuz ist, wird dieser Bezug noch deutlicher. Es hing ursprünglich an einem Grabstein, hing über dem Grab eines Verstorbenen. Im Grab unter der Erde war der Sarg, in dem der Verstorbene lag. Und über der Erde, über dem Kopf des Verstorbenen war dieses Kreuz angebracht.

Natürlich ist es ein Grabkreuz, wie es viele gibt, aber es ist doch ganz anders. Hier wird weniger der Todesfall angezeigt, als viel mehr das Aufstrebende. Hier geht es nicht nur nach unten in den Tod, in das Grab, sondern vor allem auch in die entgegengesetzte Richtung, in das Leben. Hier geht es dynamisch nach oben und setzt so dem Hinabsenken in das Grab direkt etwas gegenüber.

Jesus hatte seinen Jüngern angekündigt: „Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem! Und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen.“ Das ist eine Leidens und Sterbensankündigung, aber nicht nur. Es bleibt nicht bei dem Sterben am Kreuz. Es bleibt nicht beim Tod. Es ist nicht das Ende, als Jesus ins Grab gelegt wird. Auf Karfreitag folgt Ostern. Auf den Tod folgt die Auferstehung. Auch das ist das Ziel des Weges durch diese kommende Woche.

Und natürlich ist dieses Geschehen nicht Selbstzweck, sondern Verheißung und Zusage für uns. Uns gilt die Verheißung, dass sein Weg unser Weg ist. Uns gilt die Hoffnung, dass wir wie er durchs Sterben und durch den Tod ins Leben gehen. Durch Jesu Sterben am Kreuz verbunden mit seiner Auferstehung, glauben wir, dass wir leben werden.

Dieses aufstrebende Bronzekreuz weist uns als Grabkreuz den Weg. Es weist uns den Weg durch diese Woche, durch das Leiden und Sterben hin zur Auferstehung Jesu. Es weist im Zeichen des Todes auf das kommende Leben.

„Der Menschensohn muss erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.“ (Joh 3,14b.15)

Eine gesegnete Karwoche wünscht Ihnen
Ihr Pfarrer Johannes Beer