An(ge)dacht am 5. Sonntag der Passionszeit (21.3.2021)

Liebe Gemeinde,

er gehört eigentlich zu den Randfiguren der Passionsgeschichte – und doch ist er für einen kurzen Moment mittendrin im Geschehen. Anstelle des geschlagenen, geschwächten Jesus trägt er das Kreuz zur Schädelstätte. Mehr oder weniger zufällig ist Simon von Kyrene in die Menschenmenge in Jerusalem geraten. Er, der Mann von der nordafrikanischen Küste, war eigentlich ein Fremder in der Stadt, auch wenn er sich in der näheren Umgebung als Bauer niedergelassen hatte. Er war auf dem Heimweg vom Feld – und nun muss er Jesus helfen, das Kreuz zu tragen. Er tut das nicht aus Mitleid, nicht, weil er nicht mehr mitansehen könnte, wie Jesus sich mit dem Kreuz abmüht und kurz vor dem Zusammenbruch steht. Simon tut, was er tut, nicht freiwillig.

Im Evangelium nach Lukas lesen wir:

„Und als sie ihn (= Jesus) abführten, ergriffen sie einen Mann, Simon von Kyrene, der vom Feld kam, und legten das Kreuz auf ihn, dass er’s Jesus nachtrüge.“ (Lukas 23,26)

Simon wurde gezwungen. Die römischen Soldaten schnappten sich irgendeinen aus der Menge und zwangen ihn, das Kreuz des verurteilten Jesus zu tragen. Und auch die Soldaten tun das nicht aus Mitleid, sondern damit es schneller vorangeht, und weil sie nicht wollen, dass Jesus – geschwächt, wie er ist – ihnen noch auf dem Weg zur Hinrichtung wegstirbt. Nein, eine andere Wahl hätte Simon nicht gehabt. Den Soldaten nicht zu gehorchen, das war ganz sicher aussichtslos. Von einem frommen, guten Werk, von einem Beispiel für uns alle in der Art „Mach es wie Simon, sei hilfsbereit! Steh denen bei, die schwer zu tragen haben!“, so wie es Spätere oft in seinem Tun sehen wollten, kann ursprünglich also keine Rede sein. Auch nicht von einem frommen, guten Rat in der Art „Mach es wie Jesus und nimm, wenn es schwer wird, Hilfe an!“

Auch Jesus hatte ja keine Wahl. Weder ob er das Kreuz tragen, noch ob er sich dabei helfen lassen wollte. Es wird ihm beides aufgezwungen.

Das ist ja die Erfahrung vieler Menschen. Du wirst unter ein Kreuz gezwungen. Oder: Du bist gezwungen, das Kreuz eines anderen mitzutragen. So etwas sucht man sich nicht aus. Das trifft einen. Da wird etwa der Partner oder die Partnerin krank oder dement oder braucht Pflege. Für die Frau oder den Mann bedeutet das dann, diesen Weg mitzugehen, zu stützen, mitzutragen, Nähe und Wärme zu schenken – und auf vieles zu verzichten: Zeit für sich und die eigenen Wünsche. Das Schicksal fragt nicht: „Willst du das?“ Es zwingt einen, so wie Simon gezwungen wurde, das Kreuz mitzutragen.

Ich frage mich, ob es für Simon in diesem Moment etwas verändert hätte, wenn er gewusst hätte, was gerade dieses eine Kreuz bedeuten wird? Ganz bestimmt hätte es etwas verändert. Alles wäre anders gewesen. Hätte Simon den Ausgang der Geschichte dieses zum Tode Verurteilten gekannt, wäre schon in diesem Augenblick alles anders gewesen. Hätte er gewusst, wofür dieses Kreuz, unter das sie ihn zwingen, eines Tages stehen wird, hätte er gewusst, in was für eine Geschichte er da verwickelt wird, es hätte alles geändert.

Als Simon von Kyrene das Kreuz trägt, weiß er von alledem nichts. Er spürt und er sieht nur die große Last und den Zwang. Er weiß noch nichts von der überbordenden Hoffnung und von dem neuen Leben, das aus dieser Geschichte wachsen wird. Und auch von einer Liebe zu Jesus kann unter der Last des Kreuzes für ihn noch keine Rede sein. Erst später, nach Ostern, so heißt es, wird sein Sohn Rufus zum größeren Kreis der Jünger und zu den ersten Christen zählen.

Gottes Macht ist da, auch wenn ich das – wie damals Simon unterm Kreuz – nicht sehen und nicht spüren kann. Gottes Macht ist da – auch wenn ich manchmal vielleicht nicht weiß, woher ich die Kraft für den nächsten Schritt, den ich gehen muss, nehmen soll. Gottes Macht ist da – und anstatt eine unbeteiligte Randfigur zu sein bin ich schon längst mittendrin und Teil dieser wundersamen Geschichte Gottes mit uns Menschen. Wie zufällig hineingestolpert, und doch zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

„Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ (Markus 8,34) Ich glaube, dass wir unser Leben nur verstehen und mit Sinn erfüllen können, wenn wir bereit sind, das Kreuz Christi zu tragen, d.h. wenn wir uns ganz einlassen und mit hineinnehmen lassen in das große Geheimnis seines Todes am Kreuz für uns.

Gottes Macht ist da. Darauf zu vertrauen, nimmt mir mein Kreuz und die Last und das Leid nicht weg. Darauf zu vertrauen, heißt aber damit rechnen, dass mein Kreuz und die Last und das Leid niemals das Ganze sind und nie und nimmer das Ende.

Amen.

„Wenn ich auch gleich nichts fühle von deiner Macht,

du führst mich doch zum Ziele auch durch die Nacht.“ (eg 376,3)