von und mit Wolf-Eckart Dietrich, Kirchenmusiker, Ev.-Luth. Kirchengemeinde Herford-Mitte.
Noah, Nimrod, Beethoven und andere sagenhafte Figuren der biblischen Musik- und Kunstgeschichte..
Manchmal sind es einzelne Schlüsselwörter, Wörter oder Namen die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte so stark mit Bedeutung aufgeladen haben, daß sie ganze Assoziationsketten anregen, ja zu besonderen Zeiten sogar regelrechte Lawinen auslösen können.
Der Name Nimrod ist so ein Wort.
Die geneigten LeserInnen unter Ihnen lade ich ein mitzukommen auf solch eine Gedankenreise zwischen Noah und Beethoven, Reise zu bestimmten Schlaglichtern der uralten und aktuellen Geschichte.
Was ist der Mensch?
So lautet der Name der Ausstellung die wir am Samstag vor Pfingsten in der Johanniskirche in – wenn auch gründlich maskierter – gottesdienstlicher Gemeinschaft eröffnen durften.
Was ist der Mensch? Ecce homo! Sehet, welch ein Mensch! kann eine zentrale Antwort sein.
Der Ausruf des Pontius Pilatus mitten auf dem Höhepunkt der Verhörszene im Passionsgeschehen. Ein schier unbegreiflicher Moment, Pilatus bleibt nach einem ergebnislosen Verhör nur eine Geste:
Er führt Jesus, in Purpur gekleidet und mit Dornen bekrönt hinaus aus dem Gerichtssaal vor das Volk, in der stillen Hoffnung die Ankläger besänftigen zu können, begleitet von eben jenem Satz „Seht, welch ein Mensch!“ (Joh. 19, 5)
Dieses Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Kunstgeschichte, und hat einen unerschöpflichen Reichtum an Darstellungen angeregt, sowohl welche der gesamten Gerichts- und Volksszene, wie auch zahlreiche Einzelportraits des gegeißelten Christus. Von anonymen frühmittelalterlichen Darstellungen über Hieronymus Bosch, Dürer, Holbein, El Greco, Rembrandt, über Tizian und Caravaggio bis hin zu dem beeindruckenden Spätwerk „Ecce homo“ von Lovis Corinth in der frühen Moderne von 1925.
Nimrod. Nimrod kann eine gänzlich anders geartete Antwort sein auf diese Frage „Was ist der Mensch?“
Nimrod ist zum einen biblisch alttestamentarische Königsfigur, er ist nach der Überlieferung in Genesis 10, 8-10 der Urenkel des Noah (und damit entsteht ein besonderer Bezug zum Namensgeber dieses schönen Arche Noah Projektes, dieses ausgedehnten digitalen ‚Adventskalenders‘ zwischen Passions- und Trinitatiszeit).
Nimrod gilt biblisch gesehen als der erste Mensch der Königswürde erlangte, auch war er „der erste der Gewalt übte auf Erden“, außerdem ist er berühmt dafür ein „großer Jäger vor dem Herrn“ zu sein, und dieses Jäger-Sein wird im späteren Verlauf dieses kurzen Beitrags von Wichtigkeit sein. Weit über die alttestamentarisch-jüdische Tradition hinaus, wo Nimrod, mit seiner Frau Semiramis an der Seite als Begründer des babylonischen Reiches gilt, der den Turmbau zu Babel initiierte, ist er eine sagenumwobene Legendengestalt, die, glaubt man den Exegeten dieser Schrift, auch im Koran als Herrscher Babylons und großer Turmbauer und Verwirrungsstifter beschrieben wird.
Der Name Nimrod wurzelt im Tanach, in der Urform der hebräischen Schriften die später durch das Christentum zum Alten Testament kanonisiert wurden, und geht sprachgeschichtlich auf das hebräische Wort für „rebellieren“ zurück. Rebell also und Jäger als Begründer Babylons, so können wir uns diesen Nimrod vorstellen, der bei Martin Luther ganz und gar keine Sympathie erweckte. Vielmehr vergleicht er den von ihm so heftig bekämpften Papst mit dem gottlosen Herrscher Nimrod.
Auch in Dantes „Göttlicher Komödie“ (um 1320) ist Nimrod erwähnt als der Urheber der babylonischen Sprachverwirrung der mit seinem Turmbauprojekt die Strafe Gottes auf sich zieht.
Was ist der Mensch?
Beethoven zum 250. Geburtstag. Edward Elgars erlesener Freundeskreis.
George Floyd aus Minneapolis, USA.
Ähnlich wie wir in der Johannis Kirche aktuell eine immens reichhaltige Sammlung an menschlichen Portraits finden, so hat der britische Komponist Edward Elgar 1898 in seinen „Enigma Variationen“ eine geheimnisumwobene Serie von 14 musikalischen Portraits von Menschen seiner nächsten Umgebung gefertigt.
In den 14 Stücken geben die Initialen der Überschriften jeweils deutliche Hinweise auf die oder den Portraitierte/n, wir lesen C.A.E. für die Frau des Komponisten Carolin Alice Elgar, oder W.N. für Winifred Norbury, die offenbar etwas kapriziöse Sekretärin der philharmonischen Gesellschaft…
Elgar fängt auf höchst kunstvolle und originelle Weise die individuellen Eigenheiten der jeweiligen FreundInnen ein, formt sie in musikalischen Motiven, in charakteristischen Situationen und Stimmungen, teils vollen Ernstes, teils mit deutlichem Augenzwinkern.
Das musikalische Thema des Zyklus an sich gibt Rätsel auf, daher der erst später von der Nachwelt hinzugefügte Name „Enigma-Variationen“ (das Wort ‚Enigma‘ kommt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie Rätsel, Mysterium, Phänomen.) Das Thema geht jedenfalls auf Elgar selbst zurück und könnte ein verschlüsseltes Selbstportrait sein.
Uns möge heute hauptsächlich die Variation No. 9 interessieren. Sie trägt den Titel „Nimrod“ und ist einem engen Freund Elgars, dem Musikverleger August Johannes Jäger gewidmet.
Er war Chef des bis heute berühmten Londoner Novello Verlages und hat viele Werke Elgars publiziert. Beide Freunde teilten eine große Liebe zu Beethoven, und insbesondere der 2. Satz der berühmten sogenannten Sonate „Pathethique“ hatte es beiden angetan. In seiner 9. Variation legt er Beethovens Thema so subtil zu Grunde, daß es kaum auffällt, aber, wenn man es einmal kennt auch kaum überhörbar ist. Elgar spielt hier mit dem Namen des Widmungsträgers Jäger indem er den Titel ‚Nimrod‘ wählt, das Wort das inzwischen im englischsprachigen Raum, losgelöst vom biblischen Ursprung auch als allgemeingültiges Synonym für ‚Jäger‘ stehen kann.
Hören wir zunächst dieses kurze Eingangsthema bei Beethoven, es ist von solcher Milde und Sanftheit daß alle Rebellion, alle Gewalt und Herrscherattitüde die dem Namen Nimrod anhaftet, besänftigt wird, gleichsam wie David mit seiner Harfe den schwermütigen König Saul befriedete.
Und hören wir direkt darauf schließlich Elgars Variation No. 9 „Nimrod“.
Eine Musik, weit entfernt von den Beschreibungen Nimrods im Alten Testament und im Koran, Musik die die zornige Charakterisierung Luthers und Dantes überwindet, die trotz des ganz weltlichen Ursprungs einen sakralen Nimbus in sich trägt, und am ehesten etwas ausstrahlt das wir Frieden nennen können, oder zumindest die starke Sehnsucht danach. Sehnsucht nach einem Frieden den unsere Welt im Angesicht von George Floyd, nicht nur auf den Bürgersteigen von Minneapolis so bitter nötig hat.
Und so liegt es nahe daß spätere Bearbeiter diese Musik mit dem Text des „Agnus Dei“ (Lamm Gottes), oder mit dem „Lux Aeterna“ (Ewiges Licht) verknüpfen und so aus der rein instrumentalen Vorlage aussagekräftige geistliche Vokalwerke machen.
Wolf-Eckart Dietrich spielt am 10. Juni 2020 mit Transkriptionen an der Steinmann Orgel von 1973 der Herforder Jakobi Kirche.