In unserem Badezimmer hängt ein alter Spiegel aus den 50er Jahren. Früher hing er in meinem Elternhaus, aber schon in meine erste eigene Wohnung durfte ich ihn mitnehmen, so dass ich nun seit fast 60 Jahren fast täglich in den selben Spiegel schaue. Was, wenn er erzählen könnte, wüsste er alles über mich zu berichten? Er kennt mich immerhin in den verschiedensten Situationen. Er spiegelte mir mein Bild in den fröhlichsten und den traurigsten Tagen meines Lebens, als ich gesund und als ich krank war. Er zeigt mir mein Bild, auch, wenn ich es manchmal, zum Beispiel nach Augenoperationen, kaum erkennen konnte.
Und manchmal habe ich auch vor diesem Spiegel mich selbst einer strengen Prüfung unterzogen. Und damit meine ich nicht in erster Linie das Äußere, das Sichtbare. Kennen Sie das, wenn man mit Blick auf sein Spiegelbild sich selbst fragt „Wer bin ich eigentlich?“ und „Was macht mich aus?“
Dieser Frage sind viele Künstlerinnen und Künstler immer wieder vor dem Spiegel nachgegangen und haben sich selbst dabei erforscht. In der Ausstellung „Was ist der Mensch?“, die zur Zeit in der St. Johanniskirche zu sehen ist, hängt so manches Ergebnis einer solchen künstlerischen Selbstbefragung. Manchmal ist das offensichtlich, weil die Arbeiten, wie bei Rembrandt, Bernard Schultze oder Karl-Ludwig Lange zum Beispiel, als Selbstbildnisse tituliert sind. Manchmal ahnen wir es oder es erschließt sich erst, wenn man das Werk eines Künstlers oder gar den Künstler selbst näher kennt.
Aber was sehen und erkennen wir, wenn wir nun wiederum diese bildgewordenen Ergebnisse der Selbstreflexion vor dem Spiegel betrachten?
Wie der Spiegel haben wir stillen Anteil an schönen Momenten, an glücklichen Zeiten und Zufriedenheit. Aber wie der Spiegel sehen wir auch das Leiden, die Trauer oder, wie bei Bernhard Langer im Titel seines Bildes so benannt, das „schlimme Jahr“. Wir sehen die verschiedenen Fassetten und Zeiten des Lebens.
Mein alter Spiegel kann nichts erzählen, aber die Bilder in der Ausstellung in der St. Johanniskirche tun es. Und sie haben viel, sehr viel zu erzählen. Nehmen wir uns also die Zeit, ihnen zuzuhören.