Liebe Leserin und lieber Leser!
Am heutigen Sonntag Reminiszere sind wir noch am Anfang der Passionszeit. Und doch führt uns einer der Texte für heute schon in die Nacht vor Karfreitag, in die Nacht vor dem Tod Jesu.
Aus Matthäus 26:
36 Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten, der hieß Gethsemane, und sprach zu den Jüngern: Setzt euch hierher, solange ich dorthin gehe und bete. 37 Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an zu trauern und zu zagen. 38 Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wachet mit mir! 39 Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst! 40 Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Konntet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? 41 Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach. 42 Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater, ist’s nicht möglich, dass dieser Kelch vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille! 43 Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren voller Schlaf. 44 Und er ließ sie und ging wieder hin und betete zum dritten Mal und redete abermals dieselben Worte. 45 Dann kam er zu den Jüngern und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn in die Hände der Sünder überantwortet wird. 46 Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät.
Die Szene mit Jesus und seinen Jüngern führt uns hinein in den Garten Gethsemane, die hebräische Bezeichnung für Garten der Ölpresse. Der Ölbaum gehört zu den klassischen sieben Früchten des Landes Israel. Er spielt eine wichtige Rolle im Alltagsleben und als Nahrungsmittel, damals wie heute. Das Öl des Ölbaums gehört zur Zeit Jesu auch zum Tempel, zur jüdischen Glaubenspraxis. Ohne Öl keine Lichter, keine Leuchter, keine Menora.
Wenn Jesus sagt: „Ich bin das Licht der Welt“ (Johannes 8,12), dann setzt das voraus: Ich bin das Öl, gewonnen vom Ölbaum, aus seinen zerstoßenen, zerpressten Früchten. In diesem Garten der Ölpresse steht Jesus bevor, zerstoßen, zerschlagen zu werden. Er weiß das. Und geht darauf zu.
Er will bei seinem Gebet allein sein. Er hat sich ja öfters in die Stille zurückgezogen zum Gebet. Dieses Mal bittet er einige seiner Jünger ihn zu begleiten. Drei sollen mitkommen. Petrus und die beiden Söhne des Zebedäus, Jakobus und Johannes. Es sind dieselben drei, die bei seiner Verklärung auf dem Berg Horeb mit dabei waren. Drei, die ihm wichtig sind. Von denen er sich vielleicht besonderes Verständnis erhofft.
Jesus will bei seinem Gebet allein sein. Aber nicht einsam. Es ist also nicht diese Art von Alleinsein, die man ganz gerne mal hat: Wenn einem die Anforderungen und äußerliche Unruhe zu viel werden und man sich wünscht, eine Weile nur mal für sich zu sein. Solches Alleinsein dient der Erholung, ist also keine wirkliche Einsamkeit. Wirkliche Einsamkeit sind Momente im Leben, in denen man niemanden hat. Keinen Kontakt zu anderen, mit denen man verbunden ist, denen man vertraut und die man liebt.
Jesus will bei seinem Gebet allein sein. Aber er ist nicht von allen Menschen verlassen. Noch nicht. Die drei Jünger sind ja in der Nähe. „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wacht mit mir!“ sagt er zu ihnen. Und danach allein im Gebet: „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!“ Während er um Leben und Tod ringt, schlafen sie ein. Sie sind da, aber zugleich doch nicht bei ihm.
Dreimal geht er zu ihnen: Beim ersten Mal fragt er, ob sie denn nicht mal eine Stunde mit ihm wachen können. Beim zweiten Mal spricht er die Schlafenden gar nicht mehr an. Und beim dritten Mal ist der Verräter bereits zur Stelle. Die Jünger verstehen nicht, worum es geht. Kein Verständnis. Kein Beistand. Kein Trost. Keine Anteilnahme. Jesus ist allein. – Und sein Vater im Himmel?
Nein, der Kelch wird nicht an ihm vorübergehen. Diese Bitte erhört der Vater nicht. Den Kelch wird er bis zur bitteren Neige trinken. Allein. Einsam.
Jesus bringt alles vor Gott. Doch er hört keine Antwort. Keine Himmelsstimme ertönt. Kein Zeichen erscheint. So bleibt es. Das ganze Leidensgeschehen hindurch bis zum Tod am Kreuz, bis zur endgültigen Verlassenheit.
Während später Dutzende von Menschen jede Szene der Passion Jesu mitverfolgen – seine Gefangennahme, Verhör und Folterung, das Hin und Her zwischen den Machthabern – , die Szene im Garten Gethsemane bleibt einsam und ohne Zeugen, während die Jünger schlafen.
Dreimal hofft Jesus auf Rettung, dass der Kelch vorübergehe. Dreimal wirft er sich hinein ins Gebet. Dann sind die Gelegenheiten verstrichen. Keine 24 Stunden später – so überliefert es Matthäus – stirbt er mit dem Ruf: „Mein Gott, mein Gott! Warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46)
Was für eine Tat des Evangelisten, so von Jesus zu schreiben! So vom Schweigen Gottes zu erzählen! Was mutet Matthäus uns zu? Man könnte es geradezu gefährlich finden, von solch einem furchtbarem Schweigen Gottes Zeugnis abzulegen. Und zugleich mag es für andere etwas sein, das sie kennen: ohne Antwort zu bleiben und sich von Gott verlassen zu fühlen.
Der heutige Text mutet uns zu, uns dem zu stellen. Dass wir selber auch ohne Antwort bleiben auf manches Gebet. Dass andere neben uns ohne Antwort bleiben und ebenfalls darunter leiden. Und dass wir nichts herbeizwingen können.
Im Matthäusevangelium gibt es eine bemerkenswerte Passage nach dem Verlassenheitsschrei Jesu, unmittelbar nach seinem Tod: Der Vorhang im Tempel zerreißt. Die Erde birst. Tote auferstehen.
Kleidung zerreißen ist ein Zeichen der Trauer. Wenn der Vorhang zum Allerheiligsten zerreißt, bedeutet das: Gott ist vom Tod Jesu selbst zutiefst getroffen. Sein Schmerz reicht bis ins Innerste des Tempels, ins Innerste seiner selbst. Die Erde bebt, so erschüttert ist Gott. Die Auferstandenen bestätigen: Hier ist Christus, der Messias Gottes, hier bricht messianische Zeit an – allem zum Trotz.
Matthäus lenkt unseren Blick schon heute, noch ziemlich am Anfang der Passionszeit, auf das Leben jenseits des Todes. Er erzählt von der Sehnsucht nach Erlösung vom Bösen, der Sehnsucht vom Reich Gottes, nach messianischem Frieden, nach Leben dem Tode zum Trotz. Er erzählt von Sehnsucht, die Jesus selber hatte und die er den Menschen nahebrachte.
Auf diesen Weg nimmt der Evangelist uns mit. Auch für unser Gebet. Auch um zu helfen, die Trauer Gottes zu tragen. Der Kelch ging nicht an Jesus vorüber. Er nahm die Einsamkeit, die Verlassenheit, ja Gottverlassenheit auf sich.
Ob die Einsamkeit dann noch einsam ist? Hat Gott nicht nur dem Tod die Macht genommen, sondern zugleich auch der Einsamkeit? Damit wir etwas vom Himmel auf Erden haben und nicht die Hölle?
Wenn Matthäus von Jesus erzählt, ist er sich ganz sicher: Ja!
Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag,
Ihr Andreas Smidt-Schellong