An(ge)dacht zu Karfreitag 2023

Pfrn. Dr. Gabi Kern

Liebe Gemeinde,

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Mit letzter Kraft schreit Jesus im Todeskampf am Kreuz seinen Schmerz heraus. So überliefern es die Evangelien nach Markus (15,34) und Matthäus (27,46). Lukas und Johannes wissen hier Tröst-licheres zu berichten, stirbt Jesus bei ihnen doch mit den Worten „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“ (23,46) oder, wie wir bei Johannes lesen, „Es ist vollbracht!“(19,30) Die bei Matthäus und Markus bezeugte Frage Jesu, „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, ist dagegen kaum auszuhalten, scheint sie in der Todesstunde Jesu doch seine Gottesbeziehung und damit faktisch alles in Frage zu stellen. Jesu Tod am Kreuz – die große Anfrage Gottes?

Wir könnten jetzt schnell auf Ostern verweisen und diese Frage getrost verneinen. Auch Markus und Matthäus wissen schließlich um die Auferstehung Jesu und davon, dass der Tod nicht das letzte Wort behält. Aber geht das so einfach? Würden wir damit Karfreitag, würden wir damit der Frage Jesu gerecht? Einer in ihrer Ängstlichkeit und Verzweiflung urmenschlichen Frage, gewiss, aber eben doch einer Frage, die in der Bibel am Kreuz Jesu ihren Raum und ihr Recht bekommt angesichts des Leidens, der Angst und der Not in dieser Welt, angesichts all der Erfahrungen, die letzte Fragen aufwerfen, auf die es eben keine schnellen Antworten gibt? Sechs Stunden, sagt die Bibel, hält der Todeskampf Jesu an. Drei Tage lang, heißt es, müssen die Jünger mit dieser abgründigen Ungewissheit leben, drei Tage, die es mit Jesu „Warum?“ in den Ohren auszuhalten, die es ohne eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn seines Leidens zu überstehen gilt.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – eine Frage, die wie ein Echo millionenfach durch die Geschichte der Menschheit hallt. Auch heute noch. Inmitten des Grauens von Krieg, Flucht und Vernichtung, angesichts so viel sinnlosen Leidens und Sterbens halten diese letzten Worte Jesu am Kreuz die Frage nach Gottes Gegenwart inmitten des Elends und der Schrecken dieser Welt wach.

Schon viele haben diese letzten Worte Jesu am Kreuz daher auch als Kapitulation betrachtet, als verzweifeltes Eingeständnis, dass auch der Glaube an Gott in bestimmten Situationen an seine Grenzen stößt. Insofern ich diese Frage als ein „letztes Wort“ verstehe, hat diese Interpretation sicher auch ihr Recht. Manchmal bin ich mit meinem Glauben schlicht am Ende.

Und doch leuchtet in Jesu letzten Worten am Kreuz zugleich auch etwas anderes auf, ganz zaghaft und schwach und doch vernehmbar für alle, „die Ohren haben zu hören“. Denn Jesus fragt hier nicht nur, nein, er zitiert – und zwar aus der jüdischen Gebetstradition seines Volkes. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – so lauten die ersten Worte aus Psalm 22, einem alttestamentlichen Klagepsalm, der schon viele Jahrhunderte vor Jesu Tod in der Gebetspraxis des Judentums beheimatet war. Die Anfangsworte des 22. Psalms sind somit die letzte Zuflucht des Gekreuzigten; wo nichts sonst mehr trägt, tragen allein sie noch. An ihnen hält sich der Gottessohn fest, genau wie die vielen Verzweifelten vor ihm und nach ihm.

Aber es sind nicht nur die Anfangsworte des Psalms, die uns in der Passionsgeschichte Jesu wiederbegegnen. Auch das Motiv des Kopfschüttelns und der Spott der vorübergehenden Leute sowie die Notiz vom Kleiderteilen per Los haben ihr Vorbild in diesem alten Gebet, so dass für jeden, der mit Psalm 22 vertraut ist, deutlich wird: Jesu letztes Wort am Kreuz ist im eigentlichen Sinne kein letztes Wort, kein indirektes Eingeständnis eines Scheiterns, sondern die Eröffnung eines Gebetes, eines Zwiegespräches mit Gott, das eben Gott in der äußersten Not nicht fahren lässt, sondern sich mit letzter Kraft an ihn klammert. Der, der hier sterbend sein letztes Wort spricht, wirft mich als Hörer zurück auf die Anfangsworte von Psalm 22, dessen folgende Gebetsworte nun zwar unausgesprochen, aber doch für jeden mit diesem Psalm Vertrauten unüberhörbar für immer mit im Raum stehen.

Umso wichtiger scheint es mir daher, schon an Karfreitag das Ende von Psalm 22 leise im Hintergrund mitzuhören. Dort heißt es (Psalm 22,28-29.32): Es werden gedenken und sich zum HERRN bekehren aller Welt Enden und vor ihm anbeten alle Geschlechter der Heiden. Denn des HERRN ist das Reich, und er herrscht unter den Heiden. (…) Sie werden kommen und seine Gerechtigkeit predigen dem Volk, das geboren wird. Denn er hat’s getan. Aber noch ist es nicht so weit. An Karfreitag stehen wir ganz am Beginn des Gebetes. Noch hat das ängstliche Fragen sein Recht und seine Zeit. Und auch wenn wir um das Ende des Psalms und um den Ausgang der Geschichte Jesu wissen, so will und kann beides im Moment der Anfechtung und Not nicht vorweggenommen werden. Auch das Kreuz – so lernen wir – muss betend durchlitten sein. Lähmen, so hat es der Beter erfahren, kann mich die Angst, so dass ich keinen Schritt mehr auf Gott zu tun kann, aber sie wird Gott nicht davon abhalten, sich letztlich als der zu erweisen, der von sich selbst sagt: Ich bin der „Ich bin da“. Mag sein, dass ich davon nichts spüre, mag sein, dass das Gefühl der Verlassenheit weiterhin bestehen bleibt – aber auch dieses ist wahr: „Mein Gott“ verlässt mich nicht, mich nicht und keinen anderen. Diese Wahrheit haben Gott sei Dank viele, die am Ende waren, schon erfahren, und wie der Psalmbeter in Worte gefasst, etwa in dem Liedvers (EG 376,3): „Wenn ich auch gleich nichts fühle von deiner Macht, du führst mich doch zum Ziele, auch durch die Nacht.“                                                          

Amen.

Quelle und Rechteangabe zum Bild: R. Piesbergen © GemeindebriefDruckerei.de