An(ge)dacht zum Neujahrstag 2023

Liebe Gemeinde,
mit den „guten Vorsätzen“ ist das so eine Sache. Was hatte ich mir im abgelaufenen Jahr nicht alles vorgenommen. Nur weniges davon habe ich auch tatsächlich umgesetzt. In vielen Bereichen hat sich dann doch manches völlig anders entwickelt. Und umgekehrt bin ich ohne mein eigenes Zutun zu Zielen geführt worden, die mich ganz besonders erfreuten und bereicherten. Der Mensch denkt – Gott lenkt. Und das ist sicher auch gut so.
Gute Vorsätze bestimmen am Anfang auch die Erzählung, aus der der Vers der Jahreslosung für 2023 stammt (1. Mose 16). Nachdem sich der von Gott verheißene Nachkomme für Abraham und Sara noch immer nicht einstellen mag, beschließt Sara, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Wenn sie schon nicht leiblich Mutter werden kann, so dann doch wenigstens auf dem Umweg der Leihmutterschaft. Ihre ägyptische Magd Hagar soll dafür herhalten. Ob Hagar überhaupt gefragt wurde? Die Bibel erzählt nur, dass Abraham der Stimme seiner Frau gehorchte und Hagar bald darauf tatsächlich schwanger wird.
Und obwohl alles nach Saras Plan verläuft, ist es ihr, so wie es ist, nun auch wieder nicht recht. Menschliches, Allzumenschliches kommt mit ins Spiel und macht dem ursprünglich guten Vorsatz Saras einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Sie hat die Rechnung nämlich ohne Berücksichtigung der Gefühlswelt aller Beteiligten gemacht. Vor allem im Blick auf Hagar, die für sie anfangs nur Mittel zum Zweck war, und sich selbst. Es kommt zu Demütigungen auf beiden Seiten und zu einer Situation, in der Hagar für sich nur noch einen Ausweg sieht: die Flucht.
Und die führt, wie so oft, in die Wüste. An einer Wasserquelle begegnet ihr dort der Engel des HERRN und stellt ihr zwei Fragen: „Wo kommst du her? Und wo willst du hin?“ Vielleicht auch für uns die entscheidenden Fragen an der Schwelle eines Neuen Jahres. „Wo kommst du her?“ Welche Geschichten, welche Erfahrungen, welche Last trägst du mit dir herum? Was würdest du gerne hinter dir lassen? Wovor läufst du davon? Und: „Wo willst du hin?“ Was sind deine Hoffnungen, deine Wünsche, deine Träume? Woran würdest du merken, dass Gott in deinem Leben gegenwärtig ist?
Höchstpersönliche Fragen, die man vielleicht nur einem Engel beantworten mag.
Hagar, über die bis dahin nur verfügt wurde, wird in dieser Begegnung zum ersten Mal als eigenständige Person angeredet. Zwar soll sie zurückkehren und ihren Ort in der Geschichte wieder einnehmen, aber sie wird dies als Veränderte tun. Zwei Namen werden fortan ihrem Leben Sinn und Richtung geben. Da ist zum einen der Name ihres Sohnes, den sie auf Geheiß des Engels Ismael nennen soll: Gott hört. Ja, Gott hört dich, auch wenn du davonläufst und dich sonst niemand mehr hört. Daran wird sie der Name ihres Sohnes ein Leben lang erinnern. Gott hört dich.
Und das andere: Hagar gibt in dieser Erzählung auch Gott einen neuen Namen. „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (1. Mose 16,13). Aus Hagar, dem anfänglichen Objekt in der Erzählung, ist hier ein „ich“ geworden, und aus dem für sie bis dahin namenlosen Gott ein „du“. Die Demütigungen des Anfangs münden hier in ein Gesehen-Werden, in ein Angesehen-Werden, das aufrichtet und Würde verleiht. Ja, Gott sieht Hagar, aber Hagar sieht auch Gott ganz neu.
Wenn ich für dieses Jahr nur einen Vorsatz „frei“ hätte, so sollte es dieser sein: „Du bist ein Gott, der mich sieht“. Mit diesem Vor-Satz möchte ich alle Tage dieses Jahres beginnen. Jeden Morgen will ich mich daran erinnern lassen. Was immer dieses Jahr auch bringen mag, wir haben einen Gott, der mit uns geht, der unsere Wege kreuzt und der uns hört und sieht.
Ich wünsche Ihnen von Herzen alles erdenklich Gute für das Neue Jahr!
Bleiben Sie behütet!

Ihre Pfrn. Dr. Gabi Kern

Quelle Bild: Acryl von U. Wilke-Müller © GemeindebriefDruckerei.de