An(ge)dacht zum Sonntag Reminiscere am 13.3.2022

zu Jesaja 5,1-7

„Hört mir zu! Ich singe euch das Lied meines Freundes von seinem Weinberg.“

Ich kann mir vorstellen, wie die Jerusalemer Bürgerinnen und Bürger diesem Lied gelauscht haben. Fast alle waren interessiert an Anlage und Pflege eines Weinbergs. Wer keinen eigenen Weinberg hatte, kannte sich wenigstens theoretisch aus. Man wusste, was zu tun war und diskutierte gerne über die Möglichkeiten und ihre Vorteile. Die Zuhörenden waren gespannt. Weinberge, das waren ihr Ding, da kannten sie sich aus. War der Boden richtig bereitet und gelockert? Waren die Steine eingesammelt und als Schutzmauer aufgeschichtet? Hielt die Hecke Tiere ab und schützte so vor Verbiss der Reben? Sind die notwendigen Einrichtungen, wie zum Beispiel die Kelter, vorhanden?

Auf fruchtbarem Hügel,
da liegt mein Stück Land,
dort hackt ich den Boden
mit eigener Hand,
ich mühte mich ab
und las Felsbrocken auf,
baute Wachtturm und Kelter,
setzte Reben darauf.
Und süße Trauben
erhofft ich zu Recht,
doch was dann im Herbst wuchs,
war sauer und schlecht.
Jerusalems Bürger,
ihr Leute von Juda,
was sagt ihr zum Weinberg,
was tätet denn ihr da?
Die Trauben sind sauer –
entscheidet doch ihr:
War die Pflege zu schlecht?
Liegt die Schuld denn bei mir?

Ja, alles wird getan. Geradezu vorbildlich ist die Pflege des Weinbergs. Und trotzdem stimmt das Ergebnis nicht! Für saure Trauben macht man nicht so einen Aufwand. Saure Trauben lohnen sich nicht zu ernten. Damit kann man nichts anfangen. Aber der Weinberg bringt saure und keine süßen Trauben hervor. Das Ergebnis, das Produkt stimmt nicht. Aber wieso?

Ja, war der Mühe doch zu wenig? Hat der Weinbergbesitzer und -betreiber es doch an etwas fehlen lassen?

Nein, so wird die Antwort vorausgesetzt und sicher auch von den Zuhörenden gegeben. Nein, was der Weinbergbesitzer und -betreiber gemacht hat, ist gut und sehr gut. Mehr hätten sie alle nicht tun können. Die Zuhörenden zucken mit den Achseln. Ihre Weisheit ist am Ende. Und der Sänger stimmt wieder ein und trägt sein Lied weiter vor.

Ich sage euch, Leute,
das tue ich jetzt:
Weg reiß ich die Hecke,
als Schutz einst gesetzt;
zum Weiden solln Schafe
und Rinder hinein!
Und die Mauer ringsum –
die reiße ich ein!
Zertrampelnden Füßen
geb ich ihn preis,
schlecht lohnte mein Weinberg
mir Arbeit und Schweiß!
Ich will nicht mehr hacken,
das Unkraut soll sprießen!
Der Himmel soll ihm
den Regen verschließen!

Gespannt hören die Menschen zu. Vielleicht können ja sie etwas lernen und erfahren, wie man gegen schlechte, saure Trauben vorgeht. Aber der Weinbergbesitzer weiß auch keine Lösung und ist vielmehr der vielen Arbeit und Mühe überdrüssig. Ihm reicht es. Er schmeißt die Klamotten hin und gibt den Weinberg auf. Ja, er zerstört ihn. Er hat es gründlich satt mit diesem erfolglosen Unternehmen. Es hat nicht sollen sein.

Die Zuhörenden kennen auch dieses Vorgehen. Manchmal, so wissen sie, geht es trotz aller Liebe und Mühe nicht. Manchmal gibt es einfach keine vernünftige Frucht und keinen guten Erfolg. Dann, so wissen sie, lohnt es nicht, immer noch mehr in die Anlage zu stecken und sich kaputt zu machen. Manchmal muss man auch etwas aufgeben können und woanders neu anfangen. Ja, manchmal ist das einfach so.

Und so nicken die Zuhörenden an dieser Stelle zustimmend und aufmunternd. Das ist nun mal so, lieber Freund, und da muss man eben durch. Du hast das schon ganz richtig gemacht.

Eigentlich wollen sie jetzt gehen. Das Problem des Weinbergs ist doch gelöst. Sie drehen sich schon um, als das Lied weitergeht:

Der Weinberg des Herrn
seid ihr Israeliten!
Sein Lieblingsgarten,
Juda, seid ihr!
Er hoffte auf Rechtsspruch –
und erntete Rechtsbruch,
statt Liebe und Treue
nur Hilfeschreie!

Die Bewegungen erstarren. Staunend gucken die Zuhörenden noch einmal den Sänger an. Es ging gar nicht um ein gärtnerisches Problem, wird es ihnen schlagartig bewusst. Es ging nicht wirklich um die Pflege eines Weinbergs, sondern es ging um sie und um ihr Verhältnis zu Gott.

Der Sänger hatte ein Bild genutzt, das sie kannten. Er hatte auf einer Ebene, die sie verstanden und nachvollziehen konnten, ihnen Konsequenzen aufgezeigt. Aber der Freund war Gott, der Herr, und der Weinberg waren sie selbst. Gott erwartete ein Tun seines Willens und wollte die Früchte des Glaubens ernten. Aber da waren nur die sauren Trauben des Rechtsbruchs und der Hilfeschreie der Unterdrückten.

Und schlagartig wurde den Zuhörenden klar, dass die Konsequenz, die sie gerade dem Weinberg gegenüber gut geheißen hatten, ihnen selbst gilt. Sie erkannten, dass die Konsequenz eines solchen gottabgewandten Lebens, die Zerstörung ihres Weinberg sein musste.

Nun, wenn wir unseren Blick von der Szene in Jerusalem wenden und die weitere Geschichte Israels betrachten, sehen wir, dass Gott diese Konsequenz zugelassen hat. Israel wurde in einem Krieg zerstört und Jerusalem und der Tempel dem Erdboden gleichgemacht.

Und so hören wir dies Lied anders als die Menschen damals in Jerusalem. Aber der Anspruch Gottes an uns ist kein anderer als der damals an die Israeliten. Auch wir kennen die zehn Gebote. Auch wir haben die Mahnungen der Propheten. Gott erwartet auch von uns die süßen Früchte unseres Glaubens.

Aber ist unsere Gesellschaft von Rechtsspruch geprägt? Verhelfen wir allen zu ihrem Recht, so ganz selbstverständlich? Hat bei uns jede und jeder das gleiche Recht? Ist unser Leben von Liebe und Treue geprägt? Lieben wir Gott von ganzem Herzen, mit allen Sinnen und all unserer Kraft? Lieben wir unsere Nächsten, wie uns selbst? Oder übertönen die Hilfeschreie der Ungeliebten alles andere? Schreit die Lieblosigkeit und Ungerechtigkeit gegenüber den Einsamen und den am Rand der Gesellschaft Lebenden zum Himmel?

Die Passionszeit ist von alters her eine Bußzeit, in der wir uns klar machen sollen, was bei uns falsch läuft und es, wenn möglich, ändern sollen. So ist dieses alttestamentliche Lied auch uns Mahnung, auch wenn wir durch Jesu Christi Tod und Auferstehung auf Gnade statt Gericht hoffen dürfen.

Eine gute Zeit der Besinnung trotz aller äußerer Stürme wünsche ich Ihnen
Ihr Pfarrer Johannes Beer