„Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“
(Paul Gerhardt, EG 83)
„Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld / der Welt und ihrer Kinder; / es geht und büßet in Geduld / die Sünden aller Sünder; / es geht dahin, wird matt und krank, / ergibt sich auf die Würgebank, / entsaget allen Freuden; / es nimmet an Schmach, Hohn und Spott, / Angst, Wunden, Striemen, Kreuz und Tod / und spricht: „‚Ich will’s gern leiden.‘“
Liebe Gemeinde,
Paul Gerhardts Passionslied vom Lämmlein, das die Schuld trägt, ist ein ganz besonderes Lied: Für die einen gehört es zur Passionszeit wie kaum ein anderes. Es ist ihnen vertraut und sie lieben es. Anderen geht es mit seinen Worten und Bildern nur schwer über die Lippen. Die altertümliche Sprache und das verstörende Bild vom Lämmlein, das sich willig zur Schlachtbank führen lässt, ruft in ihnen eine seltsame Mischung aus Mitgefühl und Ablehnung hervor, die nicht zuletzt durch die theologische Gedankenwelt, wie sie sich in dem Dialog zwischen dem Lämmlein und Gott Vater in der zweiten Strophe widerspiegelt, irritiert und befremdet:
„Das Lämmlein ist der große Freund / und Heiland meiner Seelen; / den, den hat Gott zum Sündenfeind / und Sühner wollen wählen: / ‚Geh hin, mein Kind, und nimm dich an, / der Kinder, die ich ausgetan / zur Straf und Zornesruten; / die Straf ist schwer, der Zorn ist groß, / du kannst und sollst sie machen los / durch Sterben und durch Bluten.‘“
Strafe – Zorn – Sünde – Sühne – Sterben – Bluten: Paul Gerhardt versucht in diesem Lied das Karfreitagsgeschehen auf eine Weise zu fassen, die vielen heute fremd ist – und ich gebe zu: Wer mag so etwas schon gern singen? Das tue ich auch nicht. Und doch handelt es sich bei der Rede von dem „Lämmlein“ hier um ein Bild, das für unseren christlichen Glauben zentral ist. In jedem Abendmahlsgottesdienst singen wir das „Agnus Dei“, das „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt“. Vielleicht weil wir wissen, dass wir sie selbst nicht tragen könnten? Weil wir uns wünschen und weil wir glauben, dass da jemand ist, der sie stellvertretend für uns trägt und sie uns abnimmt? Wohl nicht von ungefähr mündet diese Anrufung, mit der schon Generationen vor uns das Abendmahl gefeiert haben, in die Bitten „erbarm dich unser“ und „gib uns deinen Frieden“. Was für ein Tausch! Die „Sünd der Welt“ wird uns abgenommen, damit uns „Erbarmen“ und „Frieden“ von Gott zuteil würden.
Aber muss es so brutal sein? „Durch Sterben und durch Bluten“? Ginge es nicht auch ohne ein solches „Opferlamm“ – irgendwie „billiger“? Wer so fragt, der unterschätzt die Macht der Sünde. Es ist die Sünde, die eine so ernstzunehmende, brutale und reale Kraft ist, dass harmlose Symbolik gegen sie nichts auszurichten vermag. Um die Sünde aus der Welt zu schaffen, braucht es jemanden, der über der Welt steht. Um die Sünde in den Tod zu schicken, braucht es jemanden, der die „Sünd der Welt“ mit sich in den Tod nimmt. Es braucht die freiwillige, sich hingebende Liebe Gottes in Jesus Christus, um die Stricke der Sünde und des Todes zu zerreißen. „Billiger“ ist Erlösung nicht zu haben.
Schon im Alten Israel kannte und praktizierte man das Ritual des sog. „Sündenbocks“, auf den einmal im Jahr am großen Versöhnungstag die Schuld des ganzen Volkes gelegt wurde. Der Bock wurde mitsamt den Sünden in die Wüste getrieben, wo er starb. Damit – so glaubte man – nahm Gott die Sünden fort, der Mensch war frei und konnte neu beginnen. Überhaupt galt das Lamm als das bevorzugte Opfertier, das Gott dargebracht wurde, um Sühne und Reinigung von Einzelnen oder der Gemeinschaft zu erwirken. Durch sein Opfer, durch die Gnade Gottes, die die Menschen dadurch erbaten, war es möglich, die Kette von Schuld und Unheil zu durchbrechen. Im Buch des Propheten Jesaja heißt es schließlich vom sog. „Gottesknecht“:
„Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt … und (er) tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird.“ (Jes 53,4-5.7)
Für die ersten Christen war klar: Hier ist vom Leiden und Sterben Jesu Christi die Rede. Sein Tod am Kreuz wurde von Anfang an als Versöhnungstat verstanden, als unüberbietbares Opfer, mit dem Christus selbst ein für allemal Vergebung der Sünden erwirkt hat, wie schon Johannes der Täufer in seiner ersten Begegnung mit Jesus bezeugt: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ (Joh 1,29)
Paul Gerhardt entfaltet in seinem Lied mit seiner Rede vom „Lämmlein“ das Bild so, dass es zu Herzen geht. Allen Menschen, die sich selbst von Angst, Not und Tod überfallen sehen und sich ihnen wehrlos ausgeliefert fühlen, rückt dieses Lied Jesus, das Lämmlein, das selbst Angst, Not, Kreuz und Tod erlitten hat, ganz nah an ihre Seite. Es schafft damit aber nicht nur Nähe mittels Identifikation, sondern eröffnet vielmehr das Verständnis dafür, dass in diesem leidvollen und grausamen Geschehen der Kreuzigung Gottes Liebe zu uns Tat geworden ist.
Was diese Liebe bewirkt, stellt Paul Gerhardt im zweiten und dritten Vers in einem Gespräch zwischen dem Vater und dem Sohn dar. Der Vater gibt den Anstoß. Er sorgt sich, wie er seine Menschen aus dem Verhängnis retten kann. Der Sohn zögert keinen Augenblick, den Willen des Vaters auszuführen: „Ja, Vater, ja von Herzensgrund leg auf, ich will’s dir tragen; mein Wollen hängt an deinem Mund, mein Wirken ist dein Sagen.“ Und dann klingt es fast wie ein staunender Kommentar des Dichters: „O Wunderlieb, o Liebesmacht, du kannst – was nie kein Mensch gedacht – Gott seinen Sohn abzwingen. O Liebe, Liebe, du bist stark, du streckest den in Grab und Sarg, vor dem die Felsen springen.“
An dieser Stelle leuchtet schon der Ostermorgen auf, an dem die Gräber sich öffnen werden. Wie am Ostermorgen für die Frauen am Grab verändert sich das Leben für alle Menschen, die von der großen Liebe Gottes erfahren und sie für ihr Leben annehmen. Weil wir die Geliebten Gottes sind, sollen wir Liebende Gottes werden. Davon singt dieses Lied – auch wenn sich mancher erst an seine Bilder und Sprache gewöhnen muss. Der Herzton stimmt bis heute!
Pfrn. Gabi Kern