An(ge)dacht am Sonntag Lätare, den 14. März 2021

von Pfarrer Andreas Smidt-Schellong

Liebe Gemeinde!

Dieser Sonntag heißt Lätare. Es ist der einzige Sonntag in der Mitte der Passionszeit, der die Freude als Thema hat, abgeleitet von dem Wochenspruch, der auf Lateinisch mit Lätare beginnt:
„Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über sie alle, die ihr sie lieb habt!“ Jesaja 66,10
Die Freude kommt dementsprechend auch im alttestamentlichen Text für den Sonntag Lätare vor: Indirekt, in Form von großer Barmherzigkeit und ewiger Gnade Gottes.

Jesaja 54,7-10:
 So spricht der Herr: Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser. Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.

Erstaunlich, dass die Bibel so von Gott redet: „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen.“ Und: „Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen.“ Gott wendet sich ab von den Menschen! Er selbst redet von Gottverlassenheit! Es stockt mir der Atem.

Gelegentlich reden wir auch so: „Das ist eine gottverlassene Gegend hier“ sagen wir. Oder: „Er oder sie ist von allen guten Geistern verlassen“, wenn jemand im nächsten Moment etwas Waghalsiges tut. Aber wenn Gott das sagt; wenn er uns einen Augenblick verlässt, dann ist das für die Menschen möglicherweise eine Katastrophe. Wie schlimm muss dieser Augenblick sein für eine*n Betroffene*n! Der kleine Augenblick der Gottverlassenheit fühlt sich unter Umständen wie eine Ewigkeit an: Wenn die Welt für einen zusammenbricht. Wenn ein Mensch gestorben ist, der zu meinem Leben gehörte wie ein Teil von mir selber – und ich kann das nicht fassen. Man baut sein Leben auf etwas, was sich dann als brüchig erweist. Wie eine zerbröckelnde Sandburg, die ein Kind mühsam gebaut hat. Berge weichen, Hügel fallen hin, eine Welt bricht zusammen …

Die biblischen Erzähler*innen benutzen solche Bilder aus der Natur als Vergleich, um das eigene Ergehen zu beschreiben. So auch Jesaja: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen…“ Solche Bilder bringen ein enttäuschtes Lebensgefühl auf den Punkt.

Wir kommen um solche Erfahrungen nicht herum. Auf der einen Seite gibt es diese Momente der Gottverlassenheit: „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, spricht der Herr.“ Auf der anderen Seite kennen wir auch solche Gefühle:Berge weichen, Hügel fallen hin – im übertragenen Sinn.

Glücklicherweise ist dies noch nicht alles. Denn der Halbsatz nach dem Komma beginnt mit einem „aber“, „aber meine Gnade soll nicht von dir weichen.“ Nicht nur der Satz, sondern das Leben geht weiter!

Es klingt so selbstverständlich. Darum übersieht man leicht, was in diesem Jesajavers drinsteckt: Das Leben geht weiter und hat eine Zukunft! Weil es etwas Tragfähiges gibt, worauf wir unser Leben bauen dürfen. Gottes Gnade.

Sie ist da. Gott schenkt sie den Menschen. Trotz aller Unsicherheit, trotz mancher persönlicher Schicksalsschläge, trotz allem, was jemanden enttäuscht oder traurig macht, gilt: Gottes Gnade ist da und richtet Menschen auf. Sie ist verlässlich und fest und bleibt in Ewigkeit, betont Jesaja.

Berge und Hügel mögen weichen und hinfallen, aber Gottes Gnade und der Bund seines Friedens soll nicht von dir weichen und nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.

Das Aber ist entscheidend! Es weitet den Blick für die größeren Zusammenhänge des Lebens. Es verschafft Luft zum Durchatmen. Dadurch bleiben wir nicht stecken in den engen Grenzen, wo wir auf ein jeweiliges Unglück fixiert sind und um uns selbst herum kreisen. Gnade ist, wenn der Blick frei wird, wieder etwas Neues am Horizont zu entdecken.

Was einem wie eine Ewigkeit vorkommen mag, steht in Wirklichkeit in noch viel größeren Dimen-sionen: In Gottes Augen ist dies nur ein winzig kleiner Augenblick. Gegenüber dieser kleinen Zeit, diesem kleinen Augenblick steht seine große Ewigkeit. „Mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht Gott.“ Darum aufgepasst: Jesaja bezeichnet die Gnade mit ewiger Dauer, nicht die Gottverlassenheit.

Dassind Gottes Kategorien von Zeit und Ewigkeit: Die großen Zusammenhänge, in denen unser Leben von ihm gehalten und bei ihm geborgen ist.

Wenn dies kein Grund zur Freude ist!

Amen.

Ich schließe mit einer bekannten Strophe aus dem Wochenlied „Jesu, meine Freude“:
Unter deinem Schirmen bin ich vor den Stürmen aller Feinde frei.
Lass den Satan wettern, lass die Welt erzittern, mir steht Jesus bei.
Ob es jetzt gleich kracht und blitzt,
ob gleich Sünd und Hölle schrecken,
Jesus will mich decken.
EG 396, 2

Ich wünsche Ihnen alles Gute in dieser Passionszeit:
Bleiben Sie wohlbehalten!

  Ihr Andreas Smidt-Schellong