Liebe Gemeinde,
wo ist Gott? Diese Frage stellt sich immer wieder, allein schon wenn ich an die vielen Bilder und Nachrichten denke, die uns täglich aus aller Welt erreichen. Eine Krise scheint in diesen Tagen die nächste zu jagen, eine Katastrophe die andere. Wenn wir an die Zukunft denken, haben sicher viele ein mulmiges Gefühl: Wohin wird uns das alles noch führen? Corona – der Krieg – die Energieknappheit – die Inflation – der Klimawandel – …? Ich habe Bilder von afrikanischen Klein-kindern vor Augen, die elendig verhungern, weil wir als Menschheit es zwar schaffen, den Weltraum zu erobern, aber nicht das Lebensnotwendige auf unserer Erde gerecht miteinander zu teilen.
Angesichts der gefühlten eigenen Ohnmacht stellen sich Fragen ein: Wo bist du in all dem, Gott? Bist du nah? Wem bist du nah? Auf welcher Seite stehst du? Oder bist du weit weg, schaust dir das ganze Treiben von oben an? Wenn man Kinder fragt, wie sie sich denn Gott vorstellen, dann malen sie oft dieses Bild: der Königherrscher in den Wolken, fern ab von dem, was bei uns unten auf der Erde geschieht. Und ich? Wo stehe ich? Wie kann ich im Angesicht dieser Bilder von dir reden? Was wäre zu sagen? Was wäre zu tun?
Mit diesen oder ähnlichen Fragen haben schon die Menschen zur Zeit des Alten Testaments gerungen. Schon die Bibel kennt beides: Da stehen sich die zugesagte und erlebte Nähe Gottes ebenso wie die Erfahrung der Gottesferne in den Überlieferungen, Geschichten und Gebeten der Gläubigen gegenüber. Das eine scheint es nicht ohne das andere zu geben. Und so hören wir auch im Buch des Propheten Jeremia: „Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?“ (Jeremia 23,23). Ein Wort, das uns zunächst vielleicht erschrickt. Hier spricht Gott selbst und macht allen, die nach ihm fragen, unmissverständlich klar: Auf ein handhabbares Format lässt Gott sich in seiner Größe und Souveränität von Menschen nicht festlegen. Darin gründet ja gerade die Schönheit, in schwierigen Zeiten aber auch die Anfechtung unseres Glaubens. Aber dadurch, dass Gott selbst redet und sich so in die aktuelle Situation einbringt, steht eines außer Frage, nämlich, dass Er ist. Mit ihm ist zu rechnen – und zwar vielleicht gerade dort, wo er mir in meinem Fragen am fernsten scheint.
Und ich? Wo stehe ich? Wie kann ich im Angesicht jener Bilder von Gott reden? Was wäre zu sagen? Was wäre zu tun?
Einen ersten Hinweis gibt uns der Wochenspruch aus dem Matthäusevangelium, indem er unser gewohntes Denken von Ferne und Nähe auf den Kopf stellt:
„Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“, spricht Christus. (Matthäus 25,40)
Unser kleingläubiges Fragen nach Gott wird hier radikal geerdet. Um glauben zu können, muss ich weder die Augen vor der Wirklichkeit verschließen noch in den Himmel stürmen – im Gegenteil. Der kürzeste Weg, um Gott nahe zu sein, liegt ganz nah: Er führt mich zurück auf meinen Platz hier auf Erden und weist mich ein in ein Tun, das nicht mehr von mir verlangt als ich als Mensch geben kann: schlichte Mitmenschlichkeit gegenüber meinem Nächsten. Auch wenn ich nicht alles verstehe, so weiß ich doch eines: Wo das gelingt, ist Gott nahe.
Amen.
Pfrn. Dr. Gabi Kern