An(ge)dacht für den Sonntag, Lätare 10.03.2024

Die Welt des Faktischen und die Frage nach der Wahrheit

Als Christus vor Pilatus geführt wurde, tat er als einer, dem sie die Hände gefesselt hatten. Der Evangelist Johannes rückt im Unterschied zu den anderen Evangelisten dies in unseren Blick: die gefesselten Hände Christi. Fesselung hat immer die Absicht, den anderen seiner Freiheit zu berauben. Mit einer Fesselung hat die Person, die fesselt, den anderen in ihrer Hand, kann tun mit ihm, was sie will, hat Macht über ihn.

Die Hände Christi, mit denen er andere aufgerichtete, heilte, das Brot brach, den Sturm gestillte und segnete, waren nun gefesselte Hände. Das war die wirkliche Lage Christi in dieser Stunde vor Pilatus. Nun – das war ja die Meinung jener, die ihn fesselten –  kann er nichts mehr machen. Nun ist ihm die Freiheit genommen, zu wirken und damit die Wahrheit zu bezeugen. Die Fesseln Christi als ein Symbol für die Ansicht der Welt, dass er nun machtlos und wehrlos ist: Ihm waren die Hände gebunden. Und wir, als Christen müssen bedenken: Das war auch gemeint in Seinem Gebet von Gethsemane: „ Vater, nicht mein Wille geschehe, sondern dein Wille.“ Indem er sich die Hände binden, fesseln ließ, zeigte er sich als der, der ganz gehorsam den Willen seines Vaters vollzog, sich diesem Willen fügte. Und weil er das tat – sich nicht dagegen wehrte,  muss wohl aus menschlicher Sicht das (vorläufige) Urteil lauten: Pilatus war mächtiger und stärker als er. Pilatus war, weil er diesem die Hände gebunden hatte, Herr über Leben und Tod. Christus, unser Herr, war macht- und wehrlos. Das ist kein leichtes Bild für unseren Glauben, was uns in den Tagen der Passion hingehalten wird. Denn indem Christus sich fesseln ließ, machte er sich angreifbar: denn seine Wehrlosigkeit stand im Widerspruch zu seinem Wort, dass er in Wahrheit ein König, ein Herrscher ist.

Der Evangelist Johannes konfrontiert uns mit einem Herrschaftsanspruch Christi, der sich uns in Ohnmacht verkleidet, ja sich geradezu verzehrt darstellt. So, wie er uns hier gezeigt wird, provoziert er ja gerade zu die spontane Aussage: Das kann nicht wahr sein. Es kann nicht wahr sein, dass dieser gefesselte Mensch, der Erwählte Gottes ist, der König der Welt. Und so erleben wir es vielleicht auch zu bösen Zeiten in unserem Glaubensleben: nämlich dann, wenn wir meinen, etwas mit dieser Machtlosigkeit Gottes zu tun zu bekommen. Und zu diesem Urteil kommen wir schnell, wenn nicht das geschieht, was wir  von ihm als dem Herrn der Welt erwarten. Wenn uns Böses zuteil wird oder uns Leid widerfährt, dann erscheint er uns als ein ohnmächtiger Gott, dem die Hände gebunden sind. Denn er tut ja faktisch nichts, was uns vor Bösem und Leid bewahrte. Er, der von sich selber sagte: „Mit ist gegeben alle Vollmacht im Himmel und auf Erden.“ Indem Johannes uns den gefesselten Christus vor Augen stellt, führt er uns die Macht des Faktischen vor und zeigt damit, welche Gefahr, ja welch teuflische Versuchung für den Glauben darin liegt. Denn Ja, wir Menschen sehen nur das, was vor Augen ist und damit beurteilen wir auch. Und deswegen sind wir versucht, unserer Vertrauen in Christus sehr schnell aufzukündigen, wenn es faktisch so aussieht, als ließe er uns im Stich. Um aber die Wahrheit über diesen zu erkennen, die Wahrheit, dass sich in diesem gefesselten Menschen der  König der Welt, unser HERR offenbart, braucht es die Augen des Glaubens. Die Augen des Glaubens werden jenen zuteil, die bei seinem Wort bleiben, darauf hören und es immer wieder neu für sich bedenken. Denn diesem Bleiben bei seinem Wort wird eine Verheißung zuteil: „Wenn ihr bei meinem Wort bleibt“, sprich Christus, seid ihr in Wahrheit meine Schüler. Und ihr werdet die Wahrheit erkennen.“ Wenn Pilatus am Ende dieser Begegnung seine berühmte Frage stellt:

Was ist Wahrheit?

So können wir Christen ihm nur antworten: Du, Pilatus, hast die Frage falsch gestellt.  Die Frage muss lauten:

Wer ist die Wahrheit?

Und der gefesselte Mann, der Mann, dem die Hände gebunden sind, antwortet dir: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.

Amen

Ihre Pfarrerin G. Steinmeier