An(ge)dacht für den 22. Sonntag nach Trinitatis (5.11.2023)

Liebe Gemeinde,

der Evangeliumstext, der uns an diesem Sonntag begegnet, beginnt mit einer Rechenaufgabe. Im 18. Kapitel des Matthäusevangeliums lesen wir (Verse 21-22):

Petrus trat zu Jesus und sprach zu ihm: „Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Ist’s genug siebenmal?“ Jesus sprach zu ihm: „Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.“

Vermutlich hatte Petrus eine andere Antwort erwartet. Immerhin: siebenmal – das ist doch schon was! Sicher hatte Petrus gedacht, dass er doch schon sehr großzügig ist und überhaupt nicht nachtragend. Da ist ein Bruder, ein Mensch, der ihm nahesteht, mit dem er oft zu tun hat, der ihn aber immer wieder verletzt und enttäuscht, einer, der einem das Leben wirklich schwer macht. Und Petrus ist bereit, ihm bis zu siebenmal alles nachzusehen, alles zu entschuldigen, alles zu vergeben. Doch statt ihn dafür zu loben, antwortet Jesus: Nein, das genügt nicht.

Jesus sprach zu ihm: „Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.“

Heißt das also: Genau 490 Mal soll Petrus vergeben, und dann ist Schluss? Dann darf er dem anderen doch mit gleicher Münze heimzahlen? Nein, ganz bestimmt will Jesus dem Petrus keine Rechenanleitung dafür geben, wie lange er seine Rachegelüste im Zaum halten muss. Die hohe Zahl soll dem Petrus vor Augen führen, dass man beim Verletztwerden und beim Vergeben überhaupt nicht Buch führen und nachrechnen soll. Wenn Petrus weiterfragen würde: „Aber wenn ich mir alles merke, was der andere mir angetan hat, dann darf ich also beim 491. Mal zurückschlagen?“ dann würde Jesus ihm sagen: „Ach Petrus, du hast überhaupt nicht verstanden.“

Ob man vergibt oder nicht, das hängt nicht davon ab, wie oft der andere rückfällig wird. Und wie immer, wenn es etwas Wichtiges zu klären gilt, fährt Jesus mit einem Gleichnis fort, hier mit dem sog. Gleichnis vom Schalksknecht (Verse 23-35). Beim Hören oder Lesen merken wir schnell, der gemeinte Knecht, dem sein Herr auf sein Flehen hin eine unvorstellbar große Schuld erlässt und ihm die Freiheit schenkt, das sind wir. Nicht anders handelt Gott an uns – jeden Tag aufs Neue. Wir alle leben von seiner Vergebung, von seinem Erbarmen, davon, dass er für uns in Vorleistung geht. Und endete das Gleichnis hier, was für ein schönes Ende wäre das!

Aber das Gleichnis geht ja bekanntermaßen weiter: Anstatt die soeben erfahrene Barmherzigkeit seines Herrn an seine Mitknechte weiterzugeben, lässt der befreite Knecht hartherzig einen seiner Schuldiger ins Gefängnis werfen, bis der ihm alles bezahlt hätte, was er ihm schuldig war. Und so nimmt die Geschichte, wie sie Jesus erzählt, leider ein trauriges Ende:

Als aber seine Mitknechte das sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten bei ihrem Herrn alles vor, was sich begeben hatte. Da befahl ihn sein Herr zu sich und sprach zu ihm: „Du böser Knecht! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast; hättest du dich da nicht auch erbarmen sollen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe?“ Und sein Herr wurde zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis er alles bezahlt hätte, was er schuldig war.

Eindringlich ermahnt Jesus daher zum Abschluss noch einmal seine Zuhörer, allen voran Petrus, der ihn gefragt hatte, ob es genügt, seinem Bruder siebenmal zu vergeben:

So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder.“

Gott vergibt alles außer der Unbarmherzigkeit, die selber nicht zu vergeben bereit ist. Gott vergibt jedem außer dem Unbarmherzigen, der Gottes Liebe seinem Nächsten nicht gönnt. Wie wir es im Vaterunser beten: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Das eine bekomme ich nicht ohne das andere.

Wo aber, so mag man fragen, ist dann am Ende die Grenze von der Gutheit zur Dummheit, vom grenzenlosen Erbarmen zur feigen Schwäche? Kann und muss ich wirklich einem jeden alles verzeihen? Egal, wie er oder sie sich verhält?

Auch auf diese berechtigten Fragen erhalten wir in der Geschichte einen Hinweis. Die Vergebung, von der hier erzählt wird, ist nicht nur die Handlung eines Einzelnen; der andere muss sie auch wollen, und Vergebung kommt erst dann an ihr Ziel, wenn sich der, dem vergeben wurde, in seiner Haltung ändert. Wir nennen das auch Reue oder Umkehr. Manchmal ändert sich ein Mensch, bevor man ihm vergibt, manchmal aber auch erst hinterher. Die Tragik beim Knecht in der Geschichte besteht nun leider gerade darin, dass er sich überhaupt nicht ändert, dass er nicht versteht, was ihm geschenkt wurde, dass er in seinem Mitknecht nicht den Bruder, die Schwester erkennt. Und so wird ihm seine eigene Uneinsichtigkeit, seine eigene Unberührtheit zum Verhängnis. Das Gleichnis zeigt uns eben auch: Wo die eigene Schuld nicht eingesehen und anerkannt wird, wo echte Einsicht auf Dauer fehlt, da stößt selbst grenzenlose Vergebungsbereitschaft an ihre Grenzen – eben weil sie keine Einbahnstraße ist, kein Blankoscheck, der Narrenfreiheit gewährt, sondern ein Geschehen, das auf Beziehung aus ist und sich dort bewähren muss. Der Herr im Gleichnis jedenfalls nimmt seine im Voraus gewährte Vergebung am Ende zurück. Und wir lernen: Recht wird am Ende doch Recht bleiben. Umso wichtiger ist es zu wissen, dass wir es mit einem barmherzigen Gott zu tun haben, der jedem Menschen auf seine Weise – den Einsichtigen wie den Uneinsichtigen – seine Gerechtigkeit widerfahren lässt. Amen.

Ihre Pfrn. Dr. Gabi Kern

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