An(ge)dacht zum 19. Sonntag nach Trinitatis am 15. Oktober 2023

zu Johannes 5,1-16

Was ist Ihr größter Wunsch?

Wissen Sie eigentlich, was Sie wollen? Wenn ich Sie einzeln nach Ihrem jeweiligen größten Wunsch fragen würde, hätten Sie eine Antwort für mich?

Ich vermute mal, dass die allermeisten einen größeren oder größten Wunsch haben und ihn auch zu artikulieren wissen. Der ist sicher von der Situation, in der wir gerade stecken abhängig und dadurch recht unterschiedlich. Aber bei dem einen oder anderen wäre dann sicher zu hören, wie man es bei Glückwünschen so oft tut: „Hauptsache: gesund!“

Wollen Sie wirklich gesund werden oder sein? Und, was tun Sie eigentlich dafür?

Jesus fragt den, der seit achtunddreißig Jahren krank ist: „Willst du gesund werden?“

Eigentlich ist das doch eine eigenartige Frage. Immerhin liegen in den fünf Hallen beim Teich Betesda am Jerusalemer Schaftor viele Kranke. Sie alle wissen um die Heilwirkung des Wassers in diesem Teich. Der Legende nach bewegte sich das Wasser des Teiches, wenn ein Engel unsichtbar in dies stieg. Dann hatte das Wasser für den ersten, der damit in Berührung kam, heilende Wirkung. Aber nur für den ersten oder die erste. Und auf diese Chance warteten all die Kranken. Sie alle hatten sonst keine Hoffnung mehr. Traditionelle Medizin und Ärzte hatten sie nicht heilen können, so dass sie ihre letzte Zuflucht in dieser minimalen Chance sahen. Sie alle wollten der oder die erste im Wasser sein, wenn es sich bewegte. Und eigentlich konnte man davon ausgehen, dass jede und jeder hier unter den vielen Kranken gesund werden wollte. Warum wären sie sonst hier? Was fragt Jesus also den, der seit achtunddreißig Jahren krank ist? Was fragt er den, der seit achtunddreißig Jahren hier in den Hallen liegend auf das Wunder wartet: „Willst du gesund werden?“

Aber dieser Kranke antwortet anders, als es zu erwarten gewesen wäre. Er sagt weder „Ja, ich will.“ noch gar „Selbstverständlich!“ oder „Natürlich doch!“ oder was man sonst als Zustimmung und entschiedene Bekräftigung so erwarten könnte. Wir meinen fast ein Achselzucken spüren zu können bei seiner von Resignation gekennzeichneten Antwort: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.“

Will er wirklich gesund werden? Oder hat er resigniert? Sind die Umstände schuld oder hätte er etwas tun können?

Je älter ich werde, desto mehr verstehe ich den Langzeitpatienten, denn ich habe immer mehr Menschen kennengelernt, die sich in ihrer Erkrankung eingerichtet haben. Sicher, sie wollen, wenn man sie fragt, eigentlich noch gesund werden, aber sie wissen ganz genau, warum das nicht geht. Immer wieder erleben wir, dass die Umstände schuld sind. Und wenn dann jemand kommt und Lösungsstrategien anspricht oder gar vorschlägt, werden mit einem „Ja, aber …“ tausendundein Gegenargumente ins Feld geführt.

Manche haben sich eben in ihrer Situation, auch in ihrer Krankheit eingerichtet. Sie können sich gar nicht mehr vorstellen, in ein normales Leben zurückzukehren. Wer achtunddreißig Jahre in einer Halle unter vielen Kranken gelebt hat, kann sich ein Leben außerhalb der Hallen kaum mehr vorstellen. Wer innerhalb der achtunddreißig Jahre zur Hallenattraktion geworden ist, weil er schon so lange da lebt, wird diesen Status ungerne aufgeben. Jesu Frage ist also mehr als berechtigt: „Willst du gesund werden?“

Wissen wir eigentlich, was wir wirklich wollen? Oder wo haben wir uns trotz des vordergründigen Wunsches eingerichtet? An welcher Stelle wissen wir, dass die Umstände und überhaupt alles andere schuld seien nur nicht wir selbst? An welcher Stelle kaschieren wir unsere Trägheit mit solchen Ausflüchten?

Jesus hört und handelt. Wieder ist sein Tun überraschend. Obwohl der Langzeitkranke nicht den Wunsch nach Gesundung formuliert hat, obwohl er erst recht nicht Jesus um Heilung gebeten hat, heilt ihn dieser. Vom Glauben an Jesus ist hier nicht die Rede. Ja, der Langzeitkranke weiß nicht einmal, das stellt sich ja später heraus, wer Jesus ist. Er kennt ihn nicht und erkennt erst recht nicht den Gottesgesandten in ihm.

Aber Jesus heilt ihn trotzdem. Jesus zwingt ihm die nicht wirklich ersehnte Heilung auf. Jesus reißt ihn aus der Trägheit seines eingerichteten Lebens und stellt ihn nach achtunddreißig Jahren auf die Füße. Die Überwindung der inneren Lähmung ist die eigentliche Heilung. Die Überwindung der äußeren Lähmung ist nur das Zeichen dafür.

Auch da fragen wir wieder nach uns und unserer Situation: Wo müssen wir uns aus der Lethargie der Behaglichkeit, aus dem Eingerichtetsein herausreißen lassen? Wo lassen wir uns aufrütteln? Wo vermag Jesus, unsere innere Lähmung zu heilen, so dass wir sie überwinden? Wo vermögen wir im Vertrauen auf Jesus und aus unserem Glauben heraus, unseren Allerwertesten hoch und in Bewegung zu kriegen?

Diese Fragen sind sicherlich nicht so einfach zu beantworten, aber sie begegnen uns immer wieder und fast täglich neu: Wollen wir gesund werden? Wollen wir das Klima retten? Wollen wir ein gutes Miteinander in unserem Land? Wollen wir, dass Flüchtlinge eine Lebenschance haben? Wollen wir Frieden in der Welt? Wollen wir soziale Gerechtigkeit?

Es gibt so viele Fragen aus christlicher Verantwortung gegenüber Menschen und der Schöpfung heraus. Aber verwenden wir die Fülle der Fragen nicht wieder als Ausrede, uns keinem der Probleme zuzuwenden. Gucken wir, was für uns jeweils der größte Wunsch, das drängendste Problem ist und überwinden dann unsere Lähmung. Fangen wir in Jesu Namen an zu gehen, aufrecht zu gehen!

Der Geheilte nutzt seine Heilung. Er bleibt nicht liegen, sondern macht sich auf. Gut, er bekommt Probleme, weil er am Sabbat sein Bett trägt, aber das ist fast schon eine andere Geschichte, zumindest ein Teil, der uns heute nicht weiter interessiert. Er geht, auch wenn er über seinen Heiler keine Auskunft geben kann. Er hat sich offenbar weder bei Jesus noch bei den Jüngern oder den anderen, die Jesus gefolgt waren, erkundigt, wer ihn denn geheilt hat. Es scheint ihn gar nicht interessiert zu haben. Offenbar ist er vollauf damit beschäftigt, seine Schritte ins Leben, seinen Weg zum Gottesdienst zu finden.

Und eben da findet Jesu den Geheilten. Er findet ihn im Tempel und spricht ihn an. Für Jesus ist mit der Aufhebung der äußeren und inneren Lähmung die Geschichte nicht abgeschlossen. Da ist noch etwas offen.

So spricht Jesus ihn an und sagt: „Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre.“

Wie, könnte man denken, Schlimmeres als achtunddreißig Jahre als Gelähmter unter lauter Kranken zu leben? Ist denn Krankheit doch eine Strafe für Sünden?

Nein, das ist natürlich nicht gemeint. Jesus macht an verschiedenen Stellen deutlich, dass er Krankheit nie als Strafe von Sünde versteht. Er spricht hier viel mehr die Lähmung als Ganzes an. Und damit ist eben auch die Lähmung vor Gott gemeint.

Gott will nicht, dass wir gelähmt sind. Gott will nicht, dass wir uns in der Krankheit, oder wie auch immer unsere lähmende Situation heißt – einrichten. Auch das Nichtstun, das resignierte Ausharren, das Abschieben von Verantwortung ist Sünde.

Gott will vielmehr, dass wir unsere Wünsche und vor allem seinen Willen erkennen und dann vom Wollen zum Tun Kommen. Gott will eine aktive Christenheit, die in der Welt für die Welt arbeitet. Gott will uns aus unseren Lähmungen herausholen.

Ich wünsche uns eine gute Zeit des Aufbruches unter dem Segen Gottes!
Ihr Pfarrer Johannes Beer