An(ge)dacht zu Neujahr 2021

„Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“
Lukas 6,36

Was hat diese Jahreslosung mit unserer Situation am 1. Januar 2021 zu tun? Ist die Barmherzigkeit eigentlich das, was uns zur Zeit wirklich bewegt?

Wir hoffen alle und wünschen es uns gegenseitig, dass 2021 besser wird als 2020. Wir ahnen, dass viele Einschränkungen der Coronaschutzmaßnahmen uns noch länger begleiten werden, aber sehen doch durch die Impfungen Licht am Ende des Pandemietunnels. Und so hoffen wir, dass wir das alle bis zur Eindämmung der Pandemie gut überstehen, dass wir bald wieder Gottesdienste feiern können und dass irgendwann in diesem Jahr die Pandemie Geschichte sein wird.

Wir wissen aber doch jetzt schon, wie schwierig das mit dem Impfen ist und wie lange es braucht, um eine sogenannte Herdenimmunität aufzubauen. Zum einen gibt es nicht von Anfang an genügend Impfstoff für alle. Und dann beginnen die  Ausscheidungskämpfe, wer denn überhaupt geimpft werden darf. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht ohne Neid und Missgunst geregelt werden kann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass da nicht bei vielen unbewusst ein Ranking abläuft, wer es denn verdient hat, geimpft zu werden und wer erst einmal nicht. Und nach welchen Kriterien sortieren wir dann aus?

Zum anderen gibt es natürlich die Impfskeptiker und die Impfgegner. Die Krise hat ja gezeigt, wie viele Verschwörungstheorien im Umlauf sind und wie viele Menschen diesen Theorien anhängen oder sich davon beeinflussen lassen. Querdenker und Aluhutträger, rechte Gruppierungen und Maskenverweigerer gehen gemeinsam auf die Straße und demonstrieren gegen die Coronaschutzmaßnahmen. Ein solidarisches Verhalten, um Infektionen einzudämmen oder gar zu verhindern, kann man von niemanden erwarten, der Corona als Lüge empfindet. Ein friedliches Umgehen miteinander wird dann schwierig, da alle ja genau wissen, was die anderen alles falsch machen und wie schlimm das ist.

Und so beginnt dieses Jahr mit den alten Frontstellungen und den alten Feindbildern, die sich gut verfestigt haben. Eigentlich ist es also wie so oft, nur vielleicht noch verhärteter.

Solche verhärteten Fronten kannte Jesus von seinen Zeitgenossen auch. Da war die Front zwischen römischer Besatzungsmacht und jüdischen Einwohnern. Da war aber auch die Front zwischen den Frommen, den Pharisäern zum Beispiel, und den Juden, die die frommen für sündig hielten, wie die Zöllnern zum Beispiel, die mit der römischen Besatzungsmacht kollaborierten. Jesus weiß von diesen Fronten und durchbricht sie immer wieder in seinem Handeln und Predigen. Immer wieder ruft er dazu auf, nicht nur seinen Nächsten, sondern selbst seine Feinde zu lieben. Und so hat er in seiner Feldrede (Lukas 6,17-19) nach dem Gebot der Feindesliebe eben auch diese Mahnung verkündet, die jetzt zur Jahreslosung 2021 geworden ist: „Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“

Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass diejenigen, die Gott annimmt, nicht von den Frommen verworfen werden. Aber Jesus weiß, dass Menschen oft anders leben. Und wir haben gerade gesehen, dass das in unserer Situation am Anfang dieses Jahres auch für uns in unserem Umfeld nicht so selbstverständlich ist, barmherzig zu leben und allen anderen mit Liebe zu begegnen.

Eigentlich wissen wir doch, dass wir alle aus Barmherzigkeit leben. Und ich meine jetzt nicht, dass auch der Impfstoff und seine schnelle Entwicklung als Geschenk Gottes verstanden werden kann. Eigentlich ist Barmherzigkeit eine Selbstverständlichkeit, die wir immer wieder erleben. Es gibt keine Freundschaft oder Partnerschaft oder Liebesbeziehung, in der wir immer alles richtig machen. Von Kindesbeinen an haben wir durch viele Erfahrungen gelernt, dass wir keine perfekten Menschen sind. Wir haben verstanden, dass wir, so schwer es auch manchmal fällt, immer wieder um Entschuldigung bitten müssen. Ich kenne die Situation, wo ich den Kopf gesenkt habe, in der ich mich traurig und niedergeschlagen fühle. Ich weiß, wie es ist, wenn ich einen Fehler gemacht habe und um Entschuldigung bitten muss. Und natürlich weiß ich erst recht, dass ich Gott gegenüber nie alles richtig machen kann.

Es ist immer wieder eine faszinierende Erfahrung im Konfirmationsunterricht, dass die Mädchen und Jungen erst davon ausgehen, dass sie die Zehn Gebote locker halten können. Schließlich haben sie noch nie gemordet. Wenn sie sich dann inhaltlich mit den Geboten beschäftigen, merken sie allerdings schnell, wie viel komplexer die Zehn Gebote sind. Und wenn wir dann gemeinsam überlegen, wie das nicht nur mit unseren Werken, sondern auch mit unseren Worten und vor allem Gedanken aussieht, werden dieselben Mädchen und Jungen oft ganz still und senken manchmal sogar den Blick und den Kopf. Gerne bringe ich das, was die Kinder in dieser Situation dann bewegt, in ein Sündenbekenntnis. Wir beten gemeinsam und stehen gemeinsam mit gesenktem Kopf vor Gott und bitten um Vergebung. Und wir wissen doch und erleben es in der Zusage der Sündenvergebung immer wieder, dass Gott uns gegenüber barmherzig ist.

Eigentlich ist das eine Selbstverständlichkeit, die wir immer wieder erleben, dass wir Barmherzigkeit geben. Es gibt keine Freundschaft oder Partnerschaft oder Liebesbeziehung, in der die oder der Andere alles richtig macht. Von Kindesbeinen an haben wir durch viele Erfahrungen gelernt, dass wir mit den Fehlern anderer konfrontiert werden und diese uns um Entschuldigung bitten.

Wir sind diejenigen, zu denen andere mit ihren Anliegen kommen. Und je mehr wir diese anderen lieben, um so leichter fällt uns die Barmherzigkeit. Gerne nehmen wir unsere Partnerin oder unseren Partner, unsere Kinder und auch unsere Freunde wieder an und in den Arm. Gut, wir wissen, dass das keineswegs immer klappt. Und erst recht wissen wir, dass wir um so unbarmherziger werden, desto weniger wir den anderen mögen.

Aber genau das will Gott anders. Er will, dass wir andere Menschen so an- und aufnehmen, wie er es tut. Er will, dass wir barmherzig sind, so wie wir durch Gott Barmherzigkeit bekommen. Er will, dass wir die anderen so lieben, wie er uns trotz aller Unvollkommenheit liebt. Er will, dass wir nicht ein unbewusstes oder gar bewusstes Ranking vornehmen, wer es verdient hat, geimpft zu werden und wer erst einmal nicht, sondern dass wir nachvollziehbare objektive Kriterien finden, die ohne Ansehen der Personen zu Entscheidungen führen. Er will, dass wir genauso erkennen, was wir selbst alles falsch gemacht haben, wie wir das von anderen wissen. Er will, dass Impfbefürworter und Impfgegner friedlich und barmherzig mit einander umgehen.

Deshalb hat Jesus eben auch diese Mahnung verkündet, die jetzt zur Jahreslosung 2021 geworden ist: „Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“

Ich wünsche Ihnen ein gutes und gesegnetes Jahr 2021 voller Barmherzigkeit!

Ihr Pfarrer Johannes Beer