„Arche-Noah-Post“ am 9. Mai 2020

von und mit Wolf-Eckart Dietrich, Organist

EINE MELODIE IN EUROPA
Anker in bewegten Zeiten –
Blick in die Nachbarschaft

Wir leben in turbulenten Zeiten, und die Bewegungen die das momentan so berühmte C-Wort auslöst, sind uns vor Augen, umgeben uns, und versuchen unsere Lebensabläufe zu bestimmen.
Und es gibt darüber hinaus auch sehr viel größere Bewegungen und Zusammenhänge von ganz anderer Art. Gott sei Dank!
75 Jahre Frieden, Humanität und Demokratie in Europa, ausgelöst und begründet durch die alliierte Beendigung des II. Weltkriegs, durch die Befreiung von Diktatur und Gewalt im Mai 1945. Die Grundlegung einer freiheitlich-demokratischen Verfassung wird wieder möglich.
Dieses bedeutsame Jubiläum, dieser Jahrestag ist ganz sicher Grund zu tiefer Dankbarkeit, weit über den 8. Mai hinaus.
Vielleicht, wenn es gut geht, gelingt dieses wichtige Gedenken dieses Jahr ein Stück weit tiefer, gründlicher, aufmerksamer und wirksamer durch die Ausnahmesituation in der wir uns befinden.
Was für ein schönes Zeichen, zum morgigen Sonntag Kantate, „Singet!“, ist gottesdienstliche Gemeinschaft wieder möglich!
Was für ein Kontrast, denn dabei wird der Kantate Sonntag für die allermeisten schweigend, ohne Gemeinde- und Chorgesang, aufs Zuhören konzentriert, gefeiert werden. Wann gab es das zuletzt?

In Krisenzeiten, für viele von uns die ersten diesen Ausmaßes, kann es gut tun einmal ein Lot zu fällen, einen Stein fallen zu lassen in einen der tiefen Brunnen unserer kulturellen Wurzeln im europäischen Zusammenhang, um zu sehen wie hoch oder tief der Wasserstand dort ist, ob wir aus dem Brunnen gut schöpfen können.
Wie lange braucht der Stein bis er die Wasseroberfläche im Innern des Brunnens berührt, wie lang muß das Seil des Schöpfeimers sein, ist das Wasser dort genießbar, reich an Mineralien und erfrischend?
Einer dieser Brunnen unserer Geschichte ist der der Musik, und wie gleich sichtbar wird speist er sich aus einem gesamteuropäischen Netz von Quellen und Zuläufen.

Ein Volkslied zieht durch Europa. Noch ganz ohne den Eurovision Song Contest gelingt es der Musik im Laufe der Geschichte, und im Gepäck der immer schon reisefreudigen, weil wissbegierigen Musiker, innereuropäische Grenzen zu überwinden.
Eines dieser Lieder heißt „La Monica“, vermutlich aus Italien stammend wird es zu einem europäischer „Popsong“. Kaum ein Komponist von Rang und Namen im 15., 16. und 17. Jahrhundert der diese sanfte, anmutige, schlichte und doch anspruchsvolle Melodie nicht zur Grundlage einer Komposition gemacht hätte, von einfachen Instrumentalsätzen bis hin zu komplexen Variationszyklen.
Und kaum daß diese Melodie einen geistlichen Text gefunden hat, entsteht ein Meer an geistlichen Motetten, Kantaten und Choralbearbeitungen bis hinein in unsere Gegenwart.
In Italien also „La Monica“, in England „The Queenes Alamand“, in Deutschland „Ich ging einmal spazieren“. (Die Literatur zählt 23 verschiedene Textierungen zwischen Lissabon und Stockholm..)
Und in Frankreich, vermutlich zuerst dort, gelingt auf sehr geschickte, geradezu raffinierte Weise die Mutation vom Weltlichen ins Geistliche.
Geht es ursprünglich im italienischen Liedtext um ein junges Mädchen, welches beklagt von ihren Eltern als Novizin („La Monica“ – Die Nonne) in ein Kloster geschickt zu werden,
so wird in der französischen Liedfassung daraus eine Jungfrau die im heimischen Zimmer zu ihrem Schöpfer betet, als ein himmlisches Wesen, ein Engel bei ihr einkehrt und ihr das Mysterium des Heilandes unserer Welt zuflüstert. Und schon ist das Lied zu einem der berühmtesten französischen Adventslieder geworden:
„Une jeune Pucelle de noble coeur
priant en sa chambrette son Créateur.
L’ange du Ciel descendant sur la terre
Lui conta le mystère de notre Salvateur..“
Und damit sind wir mitten in der Verkündigungsszene bei Lukas 1, 30 „Da sagte der Engel zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast bei Gott Gnade gefunden.“
Ein Adventslied mitten in der Hoch-Zeit von Ostern??
Ja! Denn aus diesem italienischen Volkslied, aus der beschriebenen französisch-adventlichen Volksliedmelodie wird kurze Zeit später in Deutschland einer der stabilsten Anker in bewegten Zeiten.
Einer der wichtigsten protestantischen Choräle entsteht, als diese Melodie, auf unbekannten Wegen mit einem geistlichen Gedicht Ludwig Helmbolds zusammentrifft,
eine im wahrsten Sinne des Wortes glückliche Fügung:
„Von Gott will ich nicht lassen, denn er läßt nicht von mir,
führt mich durch alle Straßen, da ich sonst irrte sehr.
Er reicht mir seine Hand, den Abend und den Morgen
tut er mich wohl versorgen, wo ich auch sei im Land..“
Ein inniges und wechselseitig nahes Verhältnis von Mensch zu Gott, von Gott zu Mensch wird hier besungen.
Ein Klassiker der geistlichen Musik ist um 1563 geboren, und bahnt sich seinen Weg durch die Geschichte.

Zwei der unzähligen Komponisten, die diesen Choral aufgegriffen haben entstammen der Großfamilie Bach.
Hören wir zunächst eine kurze Choralbearbeitung von Johann Michael Bach (1648 – 1694). Mit der Heirat seiner jüngsten Tochter Maria Barbara 1707, wird er (posthum) vom Onkel 2. Grades zum Schwiegervater seines Verwandten Johann Sebastian Bach. J. M. Bach gestaltet den Choral in der für den mitteldeutsche Stil sehr typischen Manier. Sich gegenseitig imitierende Unterstimmen bereiten jeweils Zeile für Zeile den Eintritt des in großen Notenwerten erklingenden Cantus Firmus im Sopran vor.
Das Stück ist zu hören auf einem der klassischen, europäischen Hausinstrument des 16.-18. Jhdts., auf dem Virginal. Mit seinem warmen und sehr plastisch, wie bei einem Cembalo gezupften Klang, stand es in vielen Haushalten und erfreute sich großer Beliebtheit für geistliche, wie für weltliche Hausmusik, solistisch oder im Ensemble mit Sängern und Instrumentalisten. (Ein kleiner Kopfhörer, ein Headset oder InEar hilft sehr beim Hören.)

VON GOTT WILL ICH NICHT LASSEN – JOHANN MICHAEL BACH

Wolf-Eckart Dietrich an einer Kopie eines französische Virginals aus dem 17. Jhdt.

Eine Generation später macht Johann Sebastian Bach (1685-1750) diesen Choral zur Grundlage einer groß angelegten Orgelbearbeitung. Ganz im Sinne von „…er reicht mir seine Hand..“ kann man dieses Stück Musik gut und gerne als eine beherzte Aufforderung zum Tanz erfahren.
Ein durchweg vierstimmig gehaltener Satz fügt sich zusammen aus den drei sehr bewegten und frei konzertierenden Stimmen Bass, Alt und Sopran auf den kraftvollen Manualen der Orgel. Ein ganz bestimmtes rhythmisches Modell dominiert dabei das ganze Stück, es ist der „Seligkeitsrhythmus“, so hat es Albert Schweitzer einmal beschrieben. Für den etwas geübteren Hörer schnell erkennbar als „Kurz-Kurz-Lang-/-Kurz-Kurz-Lang…“ aus zwei Zweiunddreißigstel- und einer Sechzehntelnote bestehend. Daraus formt Bach lange und bewegte Klangketten die einen weiten musikalischen Raum eröffnen und erfüllen. Dazu kommt dann, wirklich wie ein Anker im aufgewühlten Meer, im Pedal gespielt der obligate cantus firmus, die Melodie des Chorals als Solostimme im Tenor.

VON GOTT WILL ICH NICHT LASSEN – JOHANN SEBASTIAN BACH – BWV 658 Aus den „18 Leipziger Chorälen“

Wolf-Eckart Dietrich spielt am 7. Mai, diesmal an einer Orgel aus der unmittelbaren Nachbarschaft, der Eule-Orgel in der Neustädter Marienkirche Bielefeld.

Ich wünsche uns am Vorabend des Kantate-Sonntags Freude, Bewegung und Verankerung in der Musik!
Möge sie – im Stillen mitverfolgt, in gottesdienstlicher Gemeinschaft unter Masken leise gesummt…
und in den eigenen vier Wänden und Balkonen lauthals angestimmt – zum stärkenden und erfrischenden Quellwasser werden.

Wolf-Eckart Dietrich