An(ge)dacht für den 3. Advent 2022

Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen.
Römer 13,12a

„Wie schön ist doch die Adventszeit“, denkt die alte Dame. „Es ist so eine geheimnisvolle Zeit, eine Zeit der Vorfreude und der Hoffnung. Ich freue mich auf das kleine Kind in der Krippe. Ich denke aber auch daran, dass Christus versprochen hat, eines Tages wieder zu kommen, um einen neuen Himmel und eine neue Erde zu schaffen. Es heißt, wenn Christus kommt, dann werden alle Dunkelheiten der Welt für immer in Licht verwandelt. Wie schön muss das sein! Im Grunde gehen wir jeden Tag ein Stückchen diesem Licht entgegen. Wir gehen Gottes guter Zeit entgegen und ich weiß von dem Glück, das uns Menschen dann erwartet.“
Die alte Dame lehnt sich zurück und schließt die Augen. Dann fängt sie leise an zu singen:

Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.
So sei nun Lob gesungen, dem hellen Morgenstern!
Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein
.

„Dieses Adventslied von Jochen Klepper ist wohl mein liebstes“, denkt sie. „Die Worte rühren mich immer so an, sie sind unendlich tröstlich. Jede Zeile macht mir Mut und bringt mir Gottes gute Zeit nah.
Ich habe schon viel Bedrückendes erlebt. Erst der schreckliche Krieg mit der Flucht, dann all die Krankheiten und Sorgen um die Kinder, die Unsicherheit, ob wir Arbeit finden würden. Dann starb mein lieber Mann viel zu früh. Er ist nur 59 Jahre alt geworden. Wie viele Nächte habe ich geweint, weil mir Vieles so schwer, so unerträglich war.
Ich wünsche mir Ruhe und Frieden und die Worte von Jochen Klepper sprechen ja davon: Die Nacht ist vorgerückt, die Dunkelheit ist bald vorbei, der Morgenstern erscheint schon am Horizont. Ich weiß davon, wie viel ein neuer Morgen bedeutet. Ist die Nacht erst einmal überstanden, dann kommt etwas Neues, das vielleicht Besseres bringt, es geht weiter. Mit dem neuem Licht ist immer auch neue Hoffnung verbunden.
Wen oder was meint Jochen Klepper wohl mit dem Morgenstern? Der Morgenstern kündigt nach der langen Nacht den neuen Morgen an. Hier kann wohl nur Christus gemeint sein. Christus, der Morgenstern, erhellt meine Angst, meinen Kummer, meine Not. Ich habe erlebt, wie meine Furcht und meine Sorgen in einem anderen Licht erschienen und mir manches erträglicher wurde, weil ich mich gehalten wusste. Wie oft habe ich gespürt, dass Christus sich meiner Sorgen annimmt. Ich habe mich getragen gefühlt und so konnte ich weiter machen. Christus ist mein heller Morgenstern.
Wie ging noch gleich die 2. Strophe? Ach, ja:

Dem alle Engel dienen, wird nun ein Kind und Knecht.
Gott selber ist erschienen zur Sühne für sein Recht.
Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr sein Haupt.
Er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.

„Jesus war wie alle kleinen Kinder“, denkt die alte Dame, „klein und hilflos und schutzbedürftig. Er lebte unser Leben und schließlich starb er wie alle Menschen sterben, nur viel grausamer. Aber er ist nicht nur Mensch, er ist auch Gott. Im Lied heißt es, er ist Gottes Knecht und dient den Menschen. Er kommt als Sühne für sein Recht, das heißt doch: Er, der schuldlos ist, nimmt die Schuld der Menschen auf sich und rettet sie. Jochen Klepper erklärt Kreuz und Auferstehung. So wenige Worte für so ein großartiges Ereignis!“
Die alte Dame ist beeindruckt. Leise singt sie die 3. Strophe:

Die Nacht ist schon im Schwinden, macht euch zum Stalle auf!
Ihr sollt das Heil dort finden, das aller Zeiten Lauf
von Anfang an verkündet, seit eure Schuld geschah.
Nun hat sich euch verbündet, den Gott selbst ausersah
.

„Ja“, sagt sie, „so ist das im Advent. Christus kommt in unsere Dunkelheiten und tatsächlich schwindet mit Christus die Nacht. Weihnachten ist schon ganz nah. Christus kommt und verbündet sich mit uns. Mit Gott verbunden sein, das heißt doch, ich fühle das feste Band, das mich mit Gott zusammenhält. Ich fühle, wie Gott mich hält und begleitet. Gott will diese ganz feste Verbindung mit uns Menschen. Wie wunderbar ist das! Wenn das nur alle so spüren könnten!“
Die nächste Strophe rührt die alte Dame besonders an:

Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr,
von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her
.

„Noch manche dunkle Stunde wird über uns Menschen hereinbrechen. Das weiß ich nur zu gut. Doch wie tröstlich ist es, dass diese Dunkelheiten wahrgenommen werden von dem, der kommt, Christus. Er kündigt einen neuen Morgen mit neuer Hoffnung an. Christus geht mit uns. Er blickt uns an, er macht unser Leben hell und schenkt uns Gutes. Es ist wie beim Segnen.“ Die alte Dame freut sich, und es wird ihr warm ums Herz, weil sie entdeckt hat, dass diese Strophe etwas mit Gottes Segen zu tun hat.
Froh zitiert sie die letzte Strophe:

Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt.
Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt.
Der sich den Erdkreis baute, der lässt den Sünder nicht.
Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht.

„Gott ist hell und strahlend, er ist licht, nichts Dunkles umgibt ihn“, das weiß die Dame. „Gott hat sich entschlossen, im Dunkeln unsere Welt zu wohnen. Nur so kann er den Menschen wirklich nahe sein. Deswegen wird es Weihnachten, deswegen kommt sein Sohn in diese Welt. Nie lässt er uns allein. Er will uns retten und uns von allem frei machen, was uns von Gott trennt.
Ob Jochen Klepper ganz bewusst diese Strophe an den Schluss gesetzt hat? Ihm ist es offenbar sehr wichtig, dass wir begreifen, dass Gott uns annimmt, auch wenn wir Menschen immer wieder versagen und wir die Dunkelheiten der Welt, die wir beklagen, selber verursachen.“
„Ach“, seufzt die alte Dame, „Wir sind wirklich reich beschenkt: ‚Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt.‘ Ich muss kein hartes, unbarmherziges Gericht fürchten, weil Jesus für mich einsteht. Ich bin frei und erlöst. Ich darf Gottes Reich sehen.“

Das Herz der alten Dame wird weit, sie lächelt. Sie freut sich auf Weihnachten und auf Christus, den hellen Morgenstern. Amen.

Eine lichtvolle und tröstliche Zeit wünsche ich Ihnen
Ihre Pastorin Annette Beer