An(ge)dacht am Ersten Sonntag im Advent (27.11.2022)

„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht.
Und über denen, die da wohnen im finsteren Lande scheint es hell.“ (Jesaja 9,1)

Liebe Gemeinde,
und wieder ist es Advent geworden. Auch in diesem Jahr, in dem so vieles anders ist. In einer
Welt, die nicht mehr dieselbe ist wie noch vor einem Jahr. Trotzdem – es ist wieder Advent.
Selten habe ich mich den Worten und Hoffnungen der alttestamentlichen Propheten dabei so
nahe gefühlt wie in diesem Jahr. Vom Volk, das im Dunkeln wandelt, hören wir etwa beim
Propheten Jesaja. Von Menschen, die im finsteren Lande wohnen. Mit diesen Worten
beschreibt der Prophet Jesaja (viele Jahrhunderte vor Christi Geburt) das Lebensgefühl seiner
Zeitgenossen: Dunkelheit liegt über dem Land. Die politische Lage ist düster. Finstere Flecken
überall: im Miteinander der Menschen, im Herzen und im Gemüt. Wohin soll all das noch
führen, wo geht die Reise hin? In der Dunkelheit verliert man schnell die Orientierung.
Offene Fragen, ein Ringen mit und gegen das Dunkel, krisengeschüttelt die Menschen – damals
wie heute.
Mitten in diese Krise hinein – so hören wir – hat der Prophet Jesaja dem Volk im Auftrag seines
Gottes eine Botschaft auszurichten. Und die beginnt geradezu mit einem Wachrütteln derer,
deren Augen sich vielleicht schon zu sehr an die Dunkelheit gewöhnt haben: „Soll nicht ein
Volk seinen Gott befragen?“ (Jesaja 8,19) Die Finsternis muss schon sehr weit um sich
gegriffen haben, wenn Gott sich derart in Erinnerung bringen muss. „Soll nicht ein Volk seinen
Gott befragen?“ – Tun wir das?
Dann die Verheißung: „Es wird nicht dunkel bleiben über denen, die in Angst sind. […] Das
Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im
finsteren Lande, scheint es hell.“ (Jesaja 8,23; 9,1).
Das Nachtschwarz wird durchbrochen. Da ist Licht, ein großer Hoffnungsstrahl aus der Höhe.
Mühsame Wege werden gangbar, weil dieses Licht Orientierung gibt. Die Krisen und Probleme
im „finstern Lande“ lösen sich zwar nicht plötzlich in Nichts auf, aber Leben und Zukunft
werden möglich, weil dieser Hoffnungsstrahl von oben her die Dinge ins rechte Licht setzt.
Und dann malt der Prophet Jesaja direkt im Anschluss Bilder von der Geburt eines Kindes,
dessen Herrschaft aller Unterdrückung und allen Kriegen ein Ende setzt, weil die Herrschaft
dieses Kindes auf grenzenlosem Frieden, Recht und Gerechtigkeit beruhen wird (vgl. Jesaja
9,2-6).
Mehr als 2500 Jahre sind seit dieser Verheißung verstrichen. Aber für uns, die wir an Jesus
Christus glauben, ist klar, dass die Erfüllung dieser Verheißung in der Geburt Jesu vor rund
2000 Jahren ihren Anfang genommen hat. Für uns hat dieses Licht, das alle Finsternis
durchbricht, einen Namen bekommen: Jesus Christus. Und allein durch die Bindung an ihn
gelten die Verheißungen und die Vermächtnisse des Alten Testaments auch für uns und unser
Leben.
Wie gesagt: Die Erfüllung jener großen Verheißung aus dem Buch des Propheten Jesaja hat für
uns Christen in der Geburt Jesu ihren Anfang genommen. Die Vollendung, die endgültige und
für alle Welt sichtbare Durchsetzung seines Friedensreiches steht noch aus. Das wissen wir –
so weltfremd sind wir nun auch wieder nicht. Darum reden die neutestamentlichen Schriften ja
auch so eindringlich von der Erwartung der Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten, wo Gott
vollenden wird, was er verheißen hat. Als Christen leben wir damit sozusagen in einem zweiten
Advent. Nur mit dem Unterschied, dass die Mächte der Finsternis (und da mag jeder und jede
für sich persönlich eintragen, was ihn oder sie da in diesen Zeiten gefangen nehmen will), dass
diese Mächte seit Ostern keine Macht mehr über uns beanspruchen können.
Das Licht, das uns in allen Dunkelheiten Halt und Orientierung schenken will, ist seither – trotz
aller Zweifel und Anfechtungen, die es sicherlich auch gibt und die wohl zum Glauben
dazugehören – unauslöschlich in der Welt, wie es gleich zu Beginn im Evangelium nach
Johannes heißt:
„In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in
der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.“ (Johannes 1,4-5)
Dass die Finsternis und die mit ihr verbündeten Mächte seit Ostern ins Leere greifen – genau
aus diesem Grund feiern wir auch in diesem Jahr wieder Advent. In einer Zeit, in der so vieles
anders ist. In einer Welt, die nicht mehr dieselbe ist wie noch vor ein paar Jahren. Trotzdem –
oder vielleicht besser: gerade deshalb: lasst uns die Verheißungen Gottes, in die wir mit
hineingenommen sind und in denen wir stehen, nicht vergessen – es ist Advent.
Amen.
Meine Hoffnung und meine Freude,
meine Stärke, mein Licht,
Christus, meine Zuversicht,
auf dich vertrau ich und fürcht mich nicht,
auf dich vertrau ich und fürcht mich nicht.
(Gesang aus Taizé)

Ihre Pfrn. Dr. Gabi Kern