An(ge)dacht am 20. Sonntag nach Trinitatis, den 30. Oktober 2022

von Pfarrer Pfarrer Andreas Smidt-Schellong

Liebe Leserin und lieber Leser,

zu diesem Sonntag gehört in der kirchlichen Tradition eine der bekanntesten biblischen Geschichten: Der Schluss der Arche Noah-Geschichte. Viele haben Bilder vor Augen von Noah, seiner Familie und den Tieren im schwimmenden Kasten inmitten unendlicher Wasserflächen. Vom grünen Zweig im Schnabel der Taube, der Friedenstaube als Hoffnungszeichen. Schließlich von den Menschen und Tieren auf trockenem Boden. Über ihnen der vielfarbige Regenbogen in den Wolken. Das Ende der Sintflut.

Daneben mischen sich Bilder aktueller Naturkatastrophe mit ein: Überschwemmungen, Wirbelstürme und zunehmend häufige Klimaturbulenzen. Auch in diesem Jahr sind viele Menschen davon erschüttert und beunruhigt. Das Vertrauen in unsere Lebensgrundlagen hat Risse. Nicht eines fernen Tages könnte die Erde für Menschen unbewohnbar werden, sondern die Gefahren sind schon jetzt dramatisch.

„Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (1. Mose 8,22) spricht Gott. Dies wird heute um so deutlicher wahrgenommen, weil es nicht mehr gewiss zu sein scheint.

In der Schöpfungsgeschichte am Anfang der Bibel hatte Gott die Chaoswasser mit ihrer destruktiven Kraft gebannt und begrenzt. Hier in der Sintflutgeschichte werden sie wieder frei gelassen. Nachdem sich alle Quellen der Erde und alle Fenster des Himmels wieder schließen und Gott sich den Menschen freundlich zuwendet, bleibt es dabei: „Das Trachten des Menschenherzens ist böse von Jugend an“ – neben all den guten Seiten, die in ihm drinstecken. Unter dem Strich steht die traurige Bilanz: Der Mensch kann den Erwartungen Gottes nicht gerecht werden. Er verändert sich nicht.

Doch dann folgt die überraschende Wendung: Gott verändert sich!

Nach seinem Zorn und seiner vorherigen Absicht, alles, was atmet zu vernichten, verändert Gott seinen Plan. Er zeigt sich mitfühlend und barmherzig. Trotz alledem. Bereits der Auftrag an Noah, die Arche zu bauen, war eine Unterbrechung seines Vernichtungsgedankens. Ebenso, dass Gott einen Bund mit Noah schließt. Er wird mit seiner Familie nicht nur gerettet, sondern er bekommt auch einen Auftrag: Er soll den Fortbestand allen Lebens sichern! Die Paare der Menschen und die Paare der Tiere sind der Anfang für das Leben zukünftiger Generationen. Schließlich wird diese Rettungsabsicht bestätigt: Die Wasser ziehen sich zurück, die Erde trocknet, es wächst neues Grün und neue Hoffnung.

Gottes Schutz und Segen bleiben bestehen, obwohl die Bosheit der Menschen nicht aufhört. Am Schluss der Schöpfungsgeschichte lautete das Urteil: „Und siehe, es war sehr gut“, einschließlich der Menschen. (1. Mose 1,31) Auch wenn diese Bestätigung aus der Anfangszeit nicht mehr aufrecht zu erhalten ist, bleibt Gott seiner Schöpfung treu.

Beide gehören eng zusammen: Die Schöpfungs- und die Sintflutgeschichte. „Alles war sehr gut“ und demgegenüber die Bedrohung durch die Flut und die Sicherung des Fortbestandes der Erde sind aufeinander bezogen. Es gibt keine Rückkehr in das verlorene Paradies. Denn die Bosheit der Menschen und die Gefährdung des Lebens hören nicht auf. Aber dennoch gilt auch zukünftig das Versprechen: Es geht weiter. Die Lebenswelt nach der Flut erscheint zwar nicht mehr als die beste aller Welten, aber auch nicht als die schlechteste: Die gegenwärtige Welt wird von ihren extremen Gefährdungen sozusagen weggezogen in Richtung sehr guter Anfang, jedoch ohne diesen Anfang erneut zu erreichen. Auch weiterhin werden sich Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht ablösen (1. Mose 8,22) und damit Zukunft garantieren. Das ist der verheißungsvolle Zielpunkt der Erzählung.

Die Geschichte geht gut aus. Als die Arche trockenes Land erreicht, öffnet Noah den Kasten und betritt festen Erdboden. Er verlässt mit seiner Familie und den Tieren den engen Rahmen, der ihnen vor dem Chaoswasser und Tod zwar Schutz bot, der zugleich aber auch eine Einschränkung der kreativen Möglichkeiten war. Nachdem die Tür sich öffnet, können alle aufatmen und sich wieder ausbreiten.

Darum baut Noah einen Altar und bringt ein Dankopfer. Und Gott spricht: „Meinen Regenbogen habe ich in die Wolken gesetzt; der soll das Zeichen des Bundes sein zwischen mir und der Erde.“ (1. Mose 9,13) Gott weitet den engen, geschützten Lebensraum der Arche also auf die ganze Erde aus. Aus dem begrenzten Kasten wird ein umfassender Raum. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ lautet ein bekanntes Psalmwort, das sich darauf bezieht.

Dennoch ist mit diesem Freiheitsgewinn nicht alles gut. Wie oft machen wir die Erfahrung: Der Boden unter den Füßen ist fragil. Wie oft fühlen wir uns klein und machtlos, wenn entfesselte Naturkräfte Katastrophen anrichten! Auch die biblischen Geschichten malen uns nicht bloß Rettung und Heil vor Augen, sondern sie sind auch Geschichten der Gefährdung. Ohne die Dinge zu beschönigen.

Seit vier Jahren gehen Schüler und Schülerinnen auf die Straße, um nach dem Vorbild von Greta Thunberg gegen die Klimapolitik zu protestieren. Auf einem ihrer Transparente steht: „Wenn ihr nichts für unsere Zukunft tut, dann tu ich auch nichts für meine.“ In einer berührenden Mischung aus Sorge und Wut konfrontieren sie mit der unbequemen Frage: Was hat noch Sinn, wenn man nicht mehr sicher sein kann, ob die Erde in Zukunft fortbesteht und Saat und Ernte weitergehen?

Zugleich ist ihr Protest aber auch ein zorniges Lebenszeichen, ein Akt, der etwas von der Zukunft erwartet und die Erwachsenen in die Pflicht nimmt. Wäre unter den Jugendlichen kein Vertrauen da, dass etwas gut werden kann, dann würden sie nicht in die Öffentlichkeit gehen.

Ohne Vertrauen erlahmt der Antrieb, sich für die Zukunft zu interessieren und zu engagieren. Dass alles gut wird, ist nicht zu erwarten. Darin ist nicht nur der Schluss der Sintfluterzählung nüchtern und realistisch, sondern die Bibel überhaupt. Aber es gibt Zeichen, die auf die Kraft und Schönheit der gefährdeten Schöpfung hinweisen: Für Noah und die Seinen ist es der Regenbogen, den Gott in die Wolken setzt; der ein kollektives Vertrauen der Menschheit repräsentiert: Überleben ist möglich!

Der Regenbogen wird zu einer Vertrauensbrücke. Dadurch haben Menschen Ermutigung und Inspiration gefunden, weil ihnen diese Vertrauensbrücke ein Zeichen für das Gute geworden ist.

Gott fängt noch einmal von vorne an. Er verändert seinen vorherigen Plan, die Menschen zu bestrafen und zu vernichten. Er zwingt die Menschen nicht zur Besserung. Denn er weiß: Er kann die Menschen nicht zu ihrem Glück zwingen. Aber er hält fest an der guten Schöpfung und hält seine Hand über sie!

Möge dies die Menschen zur Veränderung motivieren, gut und verantwortlich mit der Schöpfung umzugehen, mit diesem kostbaren Geschenk!

Mögen auch wir – mit dem Regenbogen als Vertrauensbrücke zwischen Gott und Menschen – an dieser Vision festhalten: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag!

Pfarrer Andreas Smidt-Schellong