An(ge)dacht zum 4. Sonntag nach Trinitatis am 10. Juli 2022

„Kehr Du doch erst einmal vor Deiner eigenen Tür!“

Da waren zwei Menschen in einen Streit geraten. Und der eine wusste, was die andere verkehrt gemacht hatte. Und umgekehrt war es genauso. So schaukelte sich der Streit mit gegenseitigen Vorhaltungen hoch. Beide legten die Finger in die Wunde des anderen und leugneten die eigenen Fehler. „Kehr Du doch erst einmal vor Deiner eigenen Tür!“ brüllte schließlich einer der beiden. Ein altbekannter Satz, ein Zitat, das im Grunde heißt: „Bring Du erst einmal dein eigenes Leben in Ordnung, bevor du dich um anderer Leute Angelegenheit kümmern kannst!“

Selbstverständlich wird die Einhaltung der so beschriebenen Lebensregel bei uns erwartet. Wir erhoffen von einander, dass jede und jeder zuerst sein eigenes Leben in Ordnung bringt, bevor er andere kritisiert. Wir fordern gerne, dass der oder die Kritisierende eine möglichst weiße Weste hat, denn, wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.

Wenn man hört, dass diese Forderungen heute allgemein anerkannt werden, ja selbstverständliche stillschweigende Übereinstimmung sind, dann könnte man vermuten, dass die Ziele des Evangeliumstextes dieser Woche in unserer Gesellschaft umgesetzt werden. Man könnte vermuten, dass Barmherzigkeit regiert und wir uns anderen Problemen zuwenden können.

Zwar stimmt es, dass unsere Gesellschaft die Worte „Solidarität“ und „Zuwendung“ leicht im Munde führt, aber von der Umsetzung dieser Begriffe ist sie weit entfernt. Zwar stimmt es, dass jede und jeder zuerst vor seiner eigenen Tür kehren sollte, aber der Dreck der anderen ist doch viel interessanter.

Und auch in der Kirche ist das leider oft nicht anders. Auch da wird gerne die Arbeit anderer analysiert und kritisiert. Jeder Fehler wird akribisch genau aufgezeigt und präsentiert. Die Arbeit anderer wird gemessen und beurteilt, ja gerichtet und verurteilt.

Und die eigene Arbeit, die eigenen Aufgabengebiete? Leider kann ich nicht immer den gleichen Einsatz auch dafür erkennen. Leider wird da nicht immer mit derselben Gründlichkeit geforscht, sondern eben alles Positive herausgestrichen und das Negative bestens überdeckt.

Es ist sicherlich nicht einfach in der heutigen Zeit und ich wäre naiv, anzunehmen, dass eine Diskussion, die oft angesichts der weiter schrumpfenden Möglichkeiten von Existenzangst geprägt ist, sachlich und neutral geführt werden könnte. Sind Jesu Worte also, wie man es der Bergpredigt so oft vorgeworfen hat, realitätsfern und unpraktikabel im Alltäglichen. Und doch ist es eine Binsenweisheit: „Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. … Denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.“

Christus möchte unsere Augen öffnen, damit wir ihn wahrnehmen und sehen, was er für uns getan hat. Denn er hat nicht an sich und sein Wohl zuerst gedacht. Er ließ sich nicht vom Gedanken der Besitzstandswahrung leiten. Er hat all seine Herrlichkeit aufgegeben, um Mensch unter Menschen zu werden. Er hat seine Solidarität zu uns Menschen gelebt, gelebt bis zum Tod am Kreuz. Er hat sich selbst geopfert, weil er geguckt hat, was wir brauchen. Das ist seine Barmherzigkeit, die uns und unsere Not ganz im Blick hat.

Und so soll nun unser Blick auch zu unserem Nächsten gehen. Sicher, es ist ein forschender Blick, aber die Intention ist eine andere als eben beschrieben. Sicher, wir sollen den anderen analysierend wahrnehmen, aber nicht richtend, sondern helfend. Die Not des anderen, sein Bedürfnis muss Zielpunkt unseres Blickes werden. Nicht das Kritisierende soll unsere Blicke lenken, sondern die Barmherzigkeit.

Und da kann es auch mal sinnvoll sein, beim Kehren und Putzen sich gegenseitig zu helfen. Ganz direkt und wörtlich. Und auch im übertragenen Sinn. Aber immer mit gegenseitiger Barmherzigkeit.

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.“
(Lukas 6,36-38)

Einen gesegneten Sonntag und eine gute Woche!
Ihr Pfarrer Johannes Beer