An(ge)dacht zum 2. Advent, den 5. Dezember 2021

Pfarrer Smidt-Schellong

Liebe Leserin und lieber Leser,

in dieser Adventszeit haben wir Pfarrer uns schwerpunktmäßig die Wochenlieder aus dem Gesangbuch als Thema vorgenommen. In den Frühandachten und in einigen Gottesdienst gehen wir darauf ein.

Das wohl bekannteste Lied fehlt in unserer Sammlung: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“. Weil es nicht nur am 1. Advent, sondern in der ganzen Adventszeit gerne gesungen wird, möchte ich ihm gleich einmal gemeinsam mit Ihnen auf die Spur gehen.

Zuvor lassen Sie uns aber die Quelle in Erinnerung rufen, die den Dichter zu seinem Lied inspiriert hat, die Verse aus Psalm 24:

 7 Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!

8 Wer ist der König der Ehre? Es ist der Herr, stark und mächtig, der Herr, mächtig im Streit.

9 Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!

10 Wer ist der König der Ehre? Es ist der Herr Zebaoth; er ist der König der Ehre.

Mit diesen Worten wurden einst in Jerusalem die Tore des Tempels geöffnet. Und dann wurde die Bundeslade mit den Tafeln der zehn Gebote in den Tempel getragen. Die bewegliche Lade, die das Volk Israel seit der Wüstenwanderung ins gelobte Land begleitete, der Thron des unsichtbaren Gottes, der durch sein Wort nahe ist, hielt Einzug im Tempel. Im Frage-Antwort-Schema sprachen oder sangen die Menschen sich diese Worte zu.

Der Liederdichter Georg Weissel aus Königsberg, der seine Verse im Advent 1623 schrieb, hatte dabei eine ganz andere Tür vor Augen:

die Eingangstür seiner neuerbauten Altroßgärter Kirche. Bei deren Ein-weihung öffnete sich vor fast 400 Jahren die Tür für die neue Gemeinde und für Georg Weissel als junger Pastor dieser neuen Königsberger Kirchengemeinde. Was für ein Tag! „Macht hoch die Tür!“

Ein Jahr nach der Einweihung soll sich Folgendes zugetragen haben: Alle Leute im Stadtteil Altroßgarten freuten sich, nun eine eigene Kirche zu haben, besonders die Bewohner im nahe gelegenen Armen- und Siechenhaus, für die der Weg zum Dom zu weit war. Nur einer hatte etwas auszusetzen: der Fisch- und Getreidehändler Sturgis, der es zu einigem Wohlstand gebracht hatte. Er kaufte ein Haus, nicht weit vom Armen- und Siechenhaus entfernt. Dicht bei seinem Gartenzaun verlief der Fußweg, den die Leute benutzten, wenn sie in die Stadt gehen oder den Gottesdienst besuchen wollten. Sturgis ärgerte sich über den Anblick dieser armseligen Gestalten. Kurzerhand vergrößerte er sein Grundstück, zog einen hohen Zaun darum und baute Richtung Armenhaus ein prächtiges Tor, verriegelt und verrammelt. Nun war den Menschen der Weg versperrt und der große Umweg zur Kirche und zur Stadt zu weit. Sie baten ihren Pastor um Hilfe und der hatte eine Idee:

In der Zeit des Adventssingens trafen sie sich vor Sturgis‘ Haus, Pastor Georg Weissel hielt eine Ansprache, umringt von der Schar der Alten und Kranken, und der Chor begann zu singen: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit!“

Davon berührt ließ Sturgis sich erweichen, holte den Schlüssel hervor und öffnete den Eisentorflügel.

Tür und Tor blieben fortan für alle offen und sie nannten den Weg „ihren Adventsweg“.[1]

1. Macht hoch die Tür die Tor macht weit; es kommt der Herr der Herrlichkeit,
ein König aller Königreich, ein Heiland aller Welt zugleich,
der Heil und Leben mit sich bringt; derhalben jauchzt, mit Freuden singt:
Gelobet sei mein Gott, mein Schöpfer, reich von Rat!

2. Er ist gerecht, ein Helfer wert; Sanftmütigkeit ist sein Gefährt,

sein Königskron ist Heiligkeit, sein Zepter ist Barmherzigkeit;
all unsre Not zum End er bringt, derhalben jauchzt, mit Freuden singt:
Gelobet sei mein Gott, mein Heiland, groß von Tat!

3. O wohl dem Land, o wohl der Stadt, so diesen König bei sich hat.
Wohl allen Herzen insgemein, da dieser König ziehet ein.
Er ist die rechte Freudensonn, bringt mit sich lauter Freud und Wonn.
Gelobet sei mein Gott, mein Tröster, früh und spät.

Ich mache einen Sprung in die Gegenwart. Bei der 3. Liedstrophe fällt mir diese Begebenheit ein:

Vor einigen Jahren, am 9. November versammelten sich wie jedes Jahr etwa 200-300 Menschen in der Bielefelder Innenstadt in der Turnerstraße am Gedenkstein, wo einst die Synagoge stand. Es wurde an die Pogromnacht 1938 erinnert, als die Nationalsozialisten jüdische Geschäfte zerstörten und plünderten. Als Leute von der Bielefelder Feuerwehr schweres Werkzeug besorgt hatten, um die Synagogentüren aufzubrechen; als welche von ihnen den Brandstiftern aus der Bevölkerung Hilfe leisteten, anstatt das Feuer zu löschen. Was für ein Hass, der sich damals in jener Nacht auf den 10. November austobte durch bedingungslose Hitlertreue und blinden Gehorsam! Dabei waren sie noch nicht einmal Kriminelle, sondern ganz normale bürgerliche Leute, die bei der Berufsfeuerwehr arbei-teten und sich daran beteiligten.

Und nun, am 75. Jahrestag des 9. November hielt ein Mitarbeiter im Namen der ganzen Feuerwehr, von denen viele uniformiert anwesend waren, seine Ansprache:

„Angesichts des unfassbaren Grauens, das die Nationalsozialisten verübt haben, fällt es noch heute schwer, für eine Rede die richtigen Worte zu finden. Für das Verhalten der Feuerwehr Bielefeld 1938 wollen wir uns entschuldigen. Wir können an der Vergangenheit nichts mehr ändern, wollen es aber auch nicht bei dieser Entschuldigung belassen. Wir stehen als Feuerwehr Bielefeld heute dafür ein, jedem Hilfebedürftigen zu helfen und Vorgänge wie vor 75 Jahren nicht noch einmal zuzulassen.“

Es war beeindruckend, wie jemand aus der Enkelgeneration benennt, was vorher jahrzehntelang verdrängt wurde. Die Geste der ausgestreckten Hand, das öffentliche Eingestehen von Schuld, die Bitte um Entschuldigung sind und bleiben wichtig in der Begegnung zwischen Christen und Juden. Das Vergangene ist deshalb nicht vergessen, es lässt sich dadurch nicht ungeschehen machen. Aber dieser Anfang war couragiert.

Eine Tür ging auf! Ich wünschte, sie öffnet sich noch viel weiter. Mögen auch heute friedliche, ver-söhnliche Zeichen in der Welt geschehen, auf dass bei uns und anderswo die in dem Lied besungene Freudensonne aufgeht.

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten 2. Advent!

   Ihr Pfarrer Andreas Smidt-Schellong

4. Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, eu’r Herz zum Tempel zubereit’.
Die Zweiglein der Gottseligkeit steckt auf mit Andacht, Lust und Freud;
so kommt der König auch zu euch, ja, Heil und Leben mit zugleich.
Gelobet sei mein Gott, voll Rat, voll Tat, voll Gnad.

5. Komm, o mein Heiland Jesu Christ, meins Herzens Tür dir offen ist.
Ach zieh mit deiner Gnade ein; dein Freundlichkeit auch uns erschein.
Dein Heilger Geist uns führ und leit den Weg zur ewgen Seligkeit.
Dem Namen dein, o Herr, sei ewig Preis und Ehr.


[1]     Die Geschichte ist entnommen aus Harald Storz (Hg.), Liedpredigten zu den Gottesdiensten im Kirchenjahr, Hannover 2007.