An(ge)dacht zum 13. Sonntag nach Trinitatis am 29. August 2021

Adam schlief mit seiner Frau Eva. Sie wurde schwanger und brachte Kain zur Welt.

Da sagte sie: »Mithilfe des Herrn habe ich einen Sohn bekommen.«

Danach brachte sie seinen Bruder Abel zur Welt. Abel wurde Hirte und Kain wurde

Ackerbauer.

Eines Tages brachte Kain dem Herrn von dem Ertrag seines Feldes eine Opfergabe dar.

Auch Abel brachte ein Opfer dar: die erstgeborenen Tiere seiner Herde und ihr Fett.

Der Herr schaute wohlwollend auf Abel und sein Opfer. Doch Kain und sein Opfer schaute er

nicht wohlwollend an. Da packte Kain der Zorn, und er blickte finster zu Boden. Der Herr

fragte Kain:

»Warum bist du so zornig, und warum blickst du zu Boden? Ist es nicht so: Wenn du Gutes

planst, kannst du den Blick frei erheben. Hast du jedoch nichts Gutes im Sinn, dann lauert die

Sünde an der Tür. Sie lockt dich, aber du darfst ihr nicht nachgeben!« Kain sagte zu seinem

Bruder Abel: »Lass uns aufs Feld gehen!« Als sie auf dem Feld waren, fiel Kain über seinen

Bruder Abel her und erschlug ihn. Da sagte der Herr zu Kain: »Wo ist dein Bruder Abel?«

Kain antwortete: »Das weiß ich nicht. Bin ich dazu da, auf meinen Bruder achtzugeben?« Der

Herr entgegnete ihm: »Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit vom Ackerboden

zu mir. Verflucht sollst du sein, verbannt vom Ackerboden, den deine Hand mit seinem Blut

getränkt hat! Wenn du ihn bearbeitest, wird er dir künftig keinen Ertrag mehr bringen. Du wirst

ein heimatloser Flüchtling sein und von Ort zu Ort ziehen.«

Kain erwiderte dem Herrn: »Die Strafe ist zu schwer für mich. Du verjagst mich jetzt vom

Ackerland und verbannst mich aus deiner Gegenwart. Als heimatloser Flüchtling muss ich

von Ort zu Ort ziehen. Jeder, dem ich begegne, kann mich erschlagen.« Der Herr antwortete:

»Das soll nicht geschehen! Wer Kain tötet, an dem soll es siebenfach gerächt werden.« Der

Herr machte ein Zeichen an Kain. Niemand, der ihm begegnete, durfte ihn töten. Kain zog

fort, weg vom Herrn, und ließ sich im Land Nod.

– Genesis 4, 1-16a

Da sind wir also: Beim ersten Mordfall der jungen Menschheitsgeschichte. Und es hat gerade

einmal vier Kapitel der Bibel gedauert.

Der Mord von Kain an Abel steht in der sogenannten „Urgeschichte“, wie die ersten 11 Kapitel

der Bibel genannt werden – sie erzählt, wie Gott die Welt aus dem Chaos schuf, und wie der

Mensch, nach seiner Schöpfung, sein möglichstes tat, die Welt wieder Richtung Chaos zu

bewegen – die junge Menschheitsgeschichte, wie sie die Bibel erzählt, ist eine

Verfallsgeschichte, und endet mit dem Brudermord, der hier geschildert wird, in einem ersten,

traurigen Höhepunkt, im moralischen Bankrott.

Seit allen Zeiten fragen Menschen sich, die diese Geschichten lesen: Warum sind wir so, wir

Menschen? Warum reicht uns nie etwas, warum können wir nicht in Harmonie und Frieden

miteinander leben, warum all dieser Hass und Neid? Und wie kann der gute Gott dieses Böse

in der Welt dulden und zulassen?

Die Urgeschichte antwortet darauf – sie versucht es zumindest. Dabei will sie nicht in einem

onthologischen, wissenschaftlichen Sinne erzählen, was damals wirklich passiert ist, sondern

vielmehr in einer Reihe von Mythen und Legenden erklären, warum die Welt ist, wie sie nun

mal ist. Und wenn man verstehen will, warum Kain seinen Bruder Abel erschlug, dann muss

man eigentlich ein paar Kapitel früher anfangen.

Denn alles begann mit diesem Apfel im Paradies. Der eigentlich gar kein Apfel war, sondern

eine Frucht – erst die Kunst des Mittelalters hat aus der Frucht, die Adam und Eva vom Baum

der Erkenntnis aßen, einen Apfel gemacht, aber seis drum.

Diese Frucht – von der listigen Schlange angepriesen als Wundermittel, um zu „sein wie

Gott“, und zu wissen, „was gut und was böse ist“ tat sein Werk – und brachte die beiden

ersten Menschen tatsächlich in die Lage, zwischen gut und böse, richtig und falsch zu

unterscheiden. Und damit begannen die ganzen Probleme.

Denn Adam und Eva waren – wie wir Menschen heute noch – immer noch begrenzte Wesen,

im Gegensatz zu Gott nicht mit Allwissenheit, Unendlichkeit und Weisheit bestückt, sondern

Gefangen im diffusen Dickicht unvollständiger, begrenzter, subjektiver Informationen und

seltsamer Gefühle. Und nun auch noch dazu verdammt, nur aufgrund dessen gewichtige

Entscheidungen mit großer Konsequenz zwischen richtig und falsch zu treffen.

Zu allem Überfluss platzte Gott auch noch der metaphorische Kragen und er warf die beiden

raus aus dem geschützten Raum des Paradieses: „Wie bitte? Ihr wollt selbst entscheiden,

was gut und böse, was richtig und falsch für euch ist? Bitteschön, dann macht das auch –

aber da draußen in der Welt, nicht hier im Garten Eden!“

Und spätestens draußen in der Welt mussten die Menschen feststellen, dass die Sache mit

gut und böse deutlich schwieriger war als gedacht. Mit dem Versprechen von Erkenntnis kam

auch der Fluch von Verantwortung, und was sich erst ganz fantastisch angehört hatte – sein

wie Gott, wissen was gut und böse ist – wurde zu einer traumatisierenden Daueraufgabe, in

einer schrecklich komplizierten Welt immer das richtige zu tun, oder mit den Konsequenzen

zu leben.

Ob Kain also davon überzeugt war, richtig und gut gehandelt zu haben, als er seinen Bruder

in dieser gewonnen Freiheit erschlug? Hier ist die Bibel tatsächlich erstaunlich zwiespältig;

denn einerseits brüstet Kain sich nicht stolz mit Brudermord, andererseits reagiert er patzig

auf die Anschuldigungen und ist überzeugt, zu hart bestraft zu werden. Aber wie auch immer:

so hatte Kain, genau wie seine Eltern belastet mit der Verpflichtung, jeden Tag zwischen gut

uns böse zu entscheiden, sich entschieden – und seine Entscheidung brachte den Mord in

die Welt.

Die Bibel erzählt mit dieser Geschichte vom ersten Mord der Menschheitsgeschichte auch die

Geschichte davon, wie das Böse in die Welt kam: Der Mensch hat das Böse aus sich heraus

geboren, im Gebrauch seiner Freiheit – und bis heute ist das Böse in der Welt kein

körperloses Unheil, kein Dämon, nicht das Werk eines „Satans“, das einfach so über die

Menschheit hereinbricht – sondern wird jeden Tag durch die Entscheidungen von Menschen in

die Welt gebracht. Das ist der bittere Preis der Freiheit, und die Konsequenz schlechter

Entscheidung.

Deswegen hat die Urgeschichte der Bibel auch auf die alte Frage, wie der gute Gott es

zulassen kann, dass es Böses in der Welt gibt, eine einfache Antwort, sie sagt: Frag nicht

danach, warum Gott das Böse zulässt – frag danach, warum du, Mensch, das Böse tust!

Denn nicht Gott bringt das Böse in die Welt – das schaffst du ganz alleine. Warum tust du

das?

Ob es also anders besser wäre? Ob wir glücklicher wären, wenn Gott eines Tages sagen

würde: „Wisst ihr, ich hab mir das jetzt lange genug angesehen mit euch – ihr seid offenbar

mit dieser Freiheit überfordert, die Eure Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßeltern so dringend

haben wollten – wir machen einen Deal: Ich übernehme die Sache mit dem gut und böse

wieder für euch, und ihr gebt dafür euren freien Willen auf?“

Ich weiß es nicht. Schwierige Entscheidung, und es mag einigen vielleicht so, und den

anderen so ergehen – abhängig von der Tagesform.

Aber solange dieser Tag nicht kommt, sind wir genau wie die vielen Menschen alter Zeit dazu

verpflichtet, das Gute in dieser Welt zu tun – das, was Leben schafft. Und nicht Böses in

dieser Welt hervorzubringen, das, was Leben einschränkt und vernichtet – wie Kain.

Denn das ist vielleicht die einzige gute Nachricht, die sich aus diesem ersten Mord der

Menschheitsgeschichte herauslesen lässt: Wenn wir Menschen durch unsere

Entscheidungen das Böse in die Welt bringen können, dann müssen wir im Umkehrschluss

genauso das Gute durch unsere Entscheidungen in die Welt bringen können – indem wir uns

eben nicht für das schlechte, böse, falsche entscheiden, sondern für das Gegenteil. Wie das

Gute konkret in unseren jeweiligen Leben aussehen kann und soll, das erfordert wache

Augen und ein weites Herz.

Aber wenn der Mensch der Schöpfer des Bösen in der Welt ist, können wir auch zu

Schöpfern des Guten werden – jeden Tag, in den kleinen Dingen. Und somit die Sache mit

dem freien Willen doch noch zu einer besseren Errungenschaft machen, als sie uns vielleicht

manchmal angesichts der dunklen, menschlichen Abgründe scheinen mag.

Einen gesegneten Herbst!

Ihr Pfarrer Simon Hillebrecht