von Bernhard König, Presbyter in Herford-Mitte.
Alles eine Frage der Zeit!
So ziemlich genau vor einem Monat hatte meine Patentochter Geburtstag. Wie jedes Jahr am gleichen Tag. Und wie jedes Jahr, war ich mit meiner Geburtstagspost spät dran. Auf den letzten Drücker. Seit fünfzehn Jahren!
Vor langer Zeit, als der Vater meiner Patentochter glaubte, endlich erwachsen zu sein – sein zu müssen –, übergab er mir feierlich seine stattliche Sammlung von Lucky-Luke-Comic-Alben. In meine Obhut, um diesen „Ballast der Jugend“ endlich abwerfen zu können – und dennoch nicht verloren zu wissen.
Irgendwann einmal kam ich auf die Idee, diesen literarischen Schatz über die Hand der Tochter wieder in den Schoß seiner Familie zurückzuführen.
Das passiert nun jedes Jahr zu Weihnachten. Und zum Geburtstag. Per Post nach Kiel. Der üppige Bestand an Material garantiert einen nahezu unerschöpflichen Gabenquell. Jahr für Jahr. So ist es für uns alle eine kleine Zeitreise. Zurück in den „Wilden Westen“ der siebziger Jahre.
Vor nun einem Monat sollte jetzt also das nächste Album auf die Reise gehen. Die mittlerweile traditionelle Flaschenpost aus der väterlichen Jugend in Richtung Ostsee.
Schnell noch eine Karte schreiben, ein kleines Bildchen drauf zeichnen: Lucky Luke mit Corona Mundschutz, aber ohne seine obligatorische Zigarette! – aus pädagogischen Gründen –, das Album in Geschenkpapier wickeln und dann ab mit der Post. Zwischendurch ein kritischer Blick auf die Uhr, den eilenden Sekundenzeiger, der die Minuten vor sich hertreibt, gnadenlos in Richtung 18.00 Uhr. Und ich brauche auch noch eine Briefmarke. Welche das wohl sein muss? Keine Ahnung; ich werde am Schalter fragen.
Zehn vor sechs. Alles ist eingepackt und ich nehme die Beine in die Hand. Und den Brief natürlich auch. Fünf Minuten für die Strecke zur Post und fünf Minuten für den Schalter. Das müsste klappen. Die Ampel, ein kleines Stückchen vor meinem Ziel, zum Überqueren der vierspurigen Straße „Auf der Freiheit“ – was soll mir der Name wohl in diesem Moment wohl sagen? –, steht auf Rot, und der Schweiß mir auf der Stirn. Ein prüfender Blick auf die Münsterkirchturmuhr: Fünf vor sechs. Oje!
Es wird grün, ich haste los.
Kurz vor sechs stehe ich vor der Tür der Postfiliale in der Bäckerstraße. Eine junge Frau mit ihrem Fahrrad ebenfalls. Sie scheint zu warten. Bestimmt das Ende der sich bereits vertraut etablierten Corona-Schlange. Einen Moment warte ich auch. Wundere mich, dass sich nichts tut. Schiele um die Dame herum. Und sehe ein handgeschriebenes Schild an der Tür kleben: Es gibt neue Öffnungszeiten. Nein, das stimmt in diesem Fall nicht: Es sind eher Schließungszeiten. Heute war um fünf schon Schluss!
Und was jetzt?
Eine kurze Gedenkminute, dann die aufblitzende Erinnerung an die finale Leerung des Briefkastens vor der Post um 18.00 Uhr, und notfalls die des Kastens am „Alten Markt“ um 18.15 Uhr, die mir schön häufiger aus der Patsche geholfen hat.
Noch schnell die Briefmarke aus dem Automaten ziehen und dann ab mit der Post. Immer noch rechtzeitig!
Ich nehme den teuren „Großbrief“, damit es auf jeden Fall auch ohne Strafporto geht, werfe eilig Münze um Münze ein – zum Glück passt das Kleingeld in meiner Tasche zum Wert der Briefmarke –, drücke auf „Briefmarke drucken“ … und nichts passiert. Schnell die „Münzrückgabe“! Es dauert einen kurzen quälenden Augenblick bis es im Auswurf erlösend rasselt. Und alles noch mal von vorn.
Es geht schon wieder nicht.
Gedanklich höre ich den Sekundenzeiger ticken, der sich in den Klang voraneilender Postbotenschritte zu verwandelt droht. Von dem mit dem großen Briefsack in der Hand, dem rettenden Briefkasten entgegenstrebend. Nur, dass mein Brief noch nicht drin ist im Kasten; der ohne meinen Brief den Namen Briefkasten doch eigentlich gar nicht verdient hat! Und das alles wegen dieser blöden Briefmarke, die sich partout nicht aus dem Automaten locken lassen will, sich grinsend darin irgendwie verschanzt zu haben scheint.
Ich sehe noch einmal rüber zur Tür der Post. Die junge Frau mit ihrem Fahrrad ist immer noch da. Drinnen im Foyer befindet noch ein weiterer Briefmarkenautomat. Der einen zusammen mit der Marke sogar auch noch mit einer Quittung fürs Finanzamt beschenkt. Aber wenn die junge Frau da noch steht, dann ist dort doch bestimmt abgeschlossen?
„Ist der Vorraum auch schon zu?“ frage ich sie. Die junge Frau sieht mich groß an. Da löst auch schon der automatische Türöffner aus. Ganz ohne „Sesam öffne Dich!“, ohne Signal mit dem Posthorn. Ohne die Antwort der jugendlichen „Sirene“ vor der Tür abzuwarten, gewährt er mit Einlass in die gelbe Schatzhöhle mit ihrem Erlösung versprechenden Schrein der Postwertzeichen.
Jetzt also nur noch schnell die Münzen in den neuen Automaten werfen. Es kann noch alles gut werden!
Zuvor noch ein kleines Aha-Erlebnis: Das Briefporto im Foyer der Post ist ein paar Cent höher als draußen. Deshalb also hatte der Kollege dort die Marken nicht rausrücken wollen. Das Display versprach dort, was der innere Hüter der kleinen „Wertpapiere“ nicht unter Preis „verschenken“ wollte.
Die Münzen fallen klingelnd in den Schlund der Maschine, die sie sogleich gierig gurgelnd verschluckt. Dann der bange Druck auf „Briefmarken drucken“ … Es macht Rzzrzt und die Marke wird tatsächlich gedruckt. „Quittung drucken?“ – „Jawoll, unbedingt! Wenigstens eine kleine Anerkennung für all die Mühe; das muss schon sein!“
Nun aber fix die beiden Papierchen aus dem Kasten fischen, die Marke auf den Brief pappen und dann endlich: ab mit der Post!
Ich nehme die Marke, lecke eilig über die Gummierung.
Und während ich sie noch zwischen Daumen und Zeigefinger auf den Umschlag presse, fährt es mir plötzlich durch die Glieder: Ich habe gerade den Virus geküsst! Mit Zunge! Alle Welt geht auf Distanz, hält einen Riesenabstand, desinfiziert alles Mögliche, und Unmögliche, trägt Gummihandschuhe bei den tollsten Gelegenheiten, Mund- und Nasenmasken – und ich? Erliege völlig ungeschützt den käuflichen Reizen einer klebrigen Briefmarke! Wie kann man nur so blöd sein?
Etwas betroffen trotte ich zum Briefkasten draußen. Was eigentlich ein Triumphmarsch hätte sein können, ein Sieg gegen die Zeit, weil alles doch noch rechtzeitig geklappt hat, gleicht nun eher einem Einpersonen-Trauerzug!
Könnte ich doch nur die Uhr um ein paar Augenblicke zurückdrehen und alles ungeschehen machen!
Aber dann wäre nun der Brief nicht rechtzeitig auf die Reise gegangen. Und meine Patentochter enttäuscht. Keine Feier, keine Freunde zum Geburtstag, und dann nicht einmal der gewohnt vertraute Besuch von Lucky Luke. Die geliebten Glückwünsche vom „glücklichen(!) Lukas“.
Manchmal muss man sich entscheiden, was wichtiger ist. Vielleicht auch Risiken abwägen. Und manchmal nimmt einem die Situation die Entscheidung einfach ab. Wenn es keine Zeit zum langen Überlegen gibt, schnelles Handeln gefragt ist. Im kleinen wie im Großen. Und man tut instinktiv das Richtige.
Wenn ich ehrlich bin, war mein Erschrecken nur von kurzer Dauer. Ich sagte mir: Die Rolle mit den Briefmarken wird bestimmt ohne besonderen Außenkontakt in den Automaten gesetzt. Und jetzt bestimmt noch mal so sorgfältig. Vermutlich sogar unter nahezu klinisch reinen Bedingungen. Nüchtern betrachtet also kein Grund Sorge!
Was ich daraus gelernt habe? Ohne Vertrauen geht es nicht. Vertrauen in die Situation, die Entscheidung, in die Sorgfalt meiner Mitmenschen, in das Leben! Gemeinsam wird alles gut. Wenn wir alle gut aufeinander achten, dann sind wir gut behütet. So soll es sein!
Und im nächsten Jahr werde ich es besser machen, mich etwas eher um meine Geburtstagspost kümmern. Oder: Es zumindest wieder versuchen … 🙂