An(ge)dacht zum 12. Sonntag nach Trinitatis, 27.8. 2023

zu Markus 7,31-37

Wunder gibt es immer wieder

Ein Mensch ist gehörlos und kann auch nicht richtig sprechen. Ich kann nur schwer nachvollziehen, gehörlos zu sein und damit auch sehr eingeschränkt im Sprechen.

In einem der Altenheime, in denen ich meinen Dienst getan habe, lebte eine gehörlose Frau. Wir verständigten uns mehr schlecht als recht mit Händen und Füßen, wie man so sagt. Sie war sehr herzlich und freundlich, freute sich, wenn wir uns begegneten und nahm erstaunlicherweise an Vielem teil, wo eigentlich ihr Gehör hätte funktionieren müssen. So kam sie auch regelmäßig zu den Gottesdiensten. Sie beobachtete alles sehr genau, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie nichts hörte, von dem, was ich sagte. Es überraschte mich, dass sie trotzdem kam und ihr der Gottesdienst so wichtig war, und sie offenbar Freude an dem Beisammensein hatte.

Jedes Mal dachte ich: Wie ist das, wenn man niemals die vielfältigen Töne, Klänge und Geräusche wahrnehmen kann. Wie ist das, niemals Musik hören zu können? Vogelstimmen und das Rauschen der Blätter im Wind, all das bleibt einem gehörlosen Menschen verschlossen. Er hört auch niemals aus vielen Stimmen eine vertraute heraus.

Vielleicht ist das aber nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, glaube ich, dass die Gefahr besteht, dass ein gehörloser Mensch sich allein und isoliert fühlt, missverstanden, misstrauisch beäugt. In der Geschichte aus dem Markusevangelium scheint das eines der Probleme zu sein, die den Gehörlosen quälen.

Es gibt aber Menschen, die sich kümmern. Freunde versuchen, ihn zu verstehen, ihn aus seiner Isolation herauszuholen. Und sie tun etwas für ihn, und zwar etwas sehr Wichtiges: Diese Menschen nämlich bringen den Gehörlosen zu Jesus, damit er die Hand auf ihn lege, so heißt es. Jesus soll den Mann segnen und damit verbindet sich die Hoffnung, dass Jesus ihn gesund macht.

Jesus schenkt dem Gehörlosen seine ganze Aufmerksamkeit. Was er tut, ist allerdings sehr seltsam: Jesus spuckt, er berührt mit seinem Speichel die Zunge des Gehörlosen, er stöhnt, er spricht unverständliche Worte. Aber andererseits erinnert sein Tun auch an einen Arzt: Er legt dem Kranken die Finger in die Ohren. Es sieht aus, als wolle Jesus den Menschen genauer untersuchen. Er nimmt den Taubstummen beiseite. Er konzentriert sich nur auf ihn. Jesus tritt in ganz engen Kontakt mit diesem Menschen. So darf es wohl nur eine sehr vertraute Person machen. Dem Gehörlosen wird klar, mit wie viel Liebe und Sorgfalt Jesus mit ihm umgeht.

Jesu Blick zum Himmel ist für den Taubstummen eindeutig: Nichts ist möglich ohne Gottes Hilfe. Dann spricht Jesus ein Wort, das wie eine Zauberformel klingt: Hefata! Dieses Wort beinhaltet viel: Hefata! Tu dich auf! Öffne dich! meint zum einem die Ohren und den Mund des Gehörlosen. Er soll hören und reden können. Aber dieses Hefata meint noch mehr: Öffne dich! Sei offen! Der ganze Mensch ist gemeint, der ganze Mensch soll geöffnet werden. Er soll frei und offen werden für Gott und die Menschen und für ein neues Leben. Der Taubstumme soll hören und sprechen können, aber auch sein Herz soll sich öffnen und er soll frei werden für Gott. Der Gehörlose spürt, dass ihn nichts hält in diesem alten Leben und dass er neu anfangen kann. Er spürt, dass sein Leben eine neue Perspektive bekommt und dass sein Blick klar wird für das Neue, das auf ihn wartet. Er horcht in sich hinein und er horcht auf das, was um ihn herum geschieht. Und er merkt, sein bisheriges Leben war nicht alles. Da gibt es mehr, etwas, das sein Leben reich macht.

Er spricht richtig, heißt es in der Geschichte. Das heißt doch, dass etwas sehr Entscheidendes mit ihm geschehen ist. Das, was ihn unfrei gemacht hat, was ihm das Leben schwer gemacht hat, fällt von ihm ab. Er erkennt, wer Gott für ihn ist. Er ist nicht mehr taub und unverständig für Gott und sein Wort. Er redet richtig, er lobt Gott. Er erlebt, wie er angenommen ist und wahrgenommen wird. Das macht ihn frei und offen, sich selbst anzunehmen. Und er wird offen und frei für seine Mitmenschen. Er spürt, wie Isolation und Einsamkeit, in denen er gelebt hat, von ihm abfallen. Er kann auf einmal verstehen, nicht nur mit seinen Ohren, auch mit seinem Herzen. Was für ein herrliches, befreiendes und glückliches Gefühl muss das für den Geheilten gewesen sein! Er ist heil, heil an Leib und Seele. Er ist gesegnet.

Menschen erleben hier ein Wunder, und sie erinnern sich an die Verheißung aus dem Buch des Propheten Jesaja: „Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken.“ Das wird wahr, wenn der Messias kommt, Gottes Sohn, der die Welt erlöst und eine neue Zeit anbrechen lässt, nämlich eine heile, gute Zeit, die Heilszeit Gottes.

Es ist geschehen, Menschen haben es erlebt. Sie sehen das Wunder, das sich vor ihren Augen abspielt, und sie erinnern sich an diese Verheißung des Messias und erkennen: Jesus ist der Messias. Sie merken, mit Jesus ist diese neue versprochene Zeit angebrochen. Mitten in der unheilen, schwierigen Welt mit all ihren Herausforderungen haben sie die heile Zeit Gottes erlebt. Nicht immer ist sie so präsent wie in diesem Augenblick, aber immer wieder, bis eines Tages Christus wiederkommt und Gottes Reich ganz und gar und in alle Ewigkeit sichtbar und erfahrbar ist.

Die gehörlose Frau im Altenheim erlebt auch immer wieder eine gute, heile Zeit. Sie strahlt so viel Lebensfreude aus, dass ich den Eindruck habe, sie hat das Wunder erlebt, das Christus schenkt. Sie ist gesegnet, sie ist heil. Sie hat offene Ohren für Gott und seine Botschaft, sie nimmt ihre Mitmenschen wahr, sie hat ihr Leben angenommen. Nie wirkt sie isoliert oder allein. Sie ist mitten drin im Geschehen, sie genießt und macht mit. Mich rührt das sehr an und ich bin sicher: Hier wirkt Gott selbst und tut ein Wunder.

Ich bin zuversichtlich, dass auch in unseren Leben Wunder geschehen. Wenn sie uns begegnen, dann werden unsere Augen und Ohren geöffnet, unsere Herzen werden weit und wir jubeln: Wie gut ist alles, was Christus tut!

Eine gute, gesegnete Woche mit wunderbaren Augenblicken!
Ihre Pfarrerin Annette Beer