An(ge)dacht am Sonntag Estomihi, den 19. Februar 2023

Liebe Leserin und lieber Leser!

Der heutige Sonntag heißt „Sei mir“ (von lat. Esto mihi) und ist die Abkürzung eines Verses aus dem Wochenpsalm: „Gott, sei mir ein starker Fels und eine Burg, dass du mir helfest.“  Ps 31,3b Zuvor bekennt der Psalmbeter sein Gottvertrauen und bittet: „Errette mich durch deine Gerechtigkeit.“

An diesem Sonntag vor der Passionszeit stehen die Nachfolge und Gerechtigkeit im Vordergrund. Das Hören und Tun des Wortes Gottes sollen miteinander im Einklang sein. Nicht, wer viele große Worte macht, sondern wer sich beherzt für Gerechtigkeit einsetzt, der hat den Ruf in die Nachfolge gehört. Das ist nicht leicht. In denen, die unter Ungerechtigkeit leiden, wird immer wieder deutlich, warum Jesus selbst den Weg des Leidens ging.

Schon der Prophet Amos ringt leidenschaftlich darum, dass das Hören des Wortes Gottes und das Handeln der Menschen übereinstimmen. Mutig legt er den Finger in die Wunde und konfrontiert seine Widersacher. So auch in dem folgenden Abschnitt, einem der Texte für diesen Sonntag. Amos kritisiert die Missstände im Tempel, wie fromm und ergeben dort zwar Gottesdienst gefeiert wird. Doch dies hat keine Auswirkungen im alltäglichen Sozialverhalten.

Amos 5:

Gott spricht: 21 Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. 22 Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich kein Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. 23 Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! 24 Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

Drastisch beschreibt der Prophet Gottes Missfallen an der Gottesdienst- und Kultpraxis im Tempel seiner Zeit. Die kritisierten Missstände erschließen sich aus dem Zusammenhang des Amosbuches. Dem beklagenswerten Ist-Zustand wird im letzten Vers die Vision des ersehnten Wunschzustands entgegengesetzt: „Recht ströme wie Wasser und Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“

Ähnlich wie die Spaltung Deutschlands in zwei Staaten zur Zeit der Mauer war das Volk Israel im 8. Jahrhundert v. Chr. zweigeteilt. Da war das Südreich Juda mit seiner Hauptstadt Jerusalem und dem Tempel darin. Und es gab das Nordreich Israel mit der Hauptstadt Samaria.

Die Bürger des Nordreichs erlebten damals eine wirtschaftliche Blüte. Clevere Geschäftsleute bringen es in der Landwirtschaft zu Großgrundbesitz und im Handel zu ansehnlichem Vermögen. Die Frauen der Oberschicht profitieren auf ihre Weise von der Hochkonjunktur: Amos beschreibt, wie sie im Luxus schwelgen. Ihre Männer versuchen, am Rande der Legalität, das Wachstum ihres Wohlstandes zu beschleunigen. Kaufleute fälschen Gewichte für Münzen und versagen Angestellten ihren gerechten Lohn. Durch Bestechung erkaufen sich die Reichen eine Lobby unter den Beamten Israels, die sich dem allgemeinen Trend anpassen, um ihrerseits ein Stück vom großen Kuchen abzubekommen. Zur Tradition Israels gehörte es Gott zu verehren, dabei ließ man sich nicht lumpen. Im Laufe des Jahres gab es zahlreiche Feste und Versammlungen, zu denen viele Menschen pilgerten, mit feierlichen Tieropfern und mit bezahlten Berufsmusikern. Die Priester, die dort arbeiteten, waren für den Opfer-, Feier- und Musikbetrieb verantwortlich und gehörten als königliche Beamte selber zur Oberschicht. Wenn man auf diese Weise die kultischen Gebote erfüllte, meinte man, dann würde Gott ihr Wohlleben selbstverständlich segnen und das eine oder andere illegale Geschäft gnädig übersehen.

In diese Situation kommt Amos als Störenfried und mischt das bunte Treiben auf. Im Namen Gottes sagt er: „Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen.“ Er sieht ihre Spenden- und Opferfreudigkeit und fährt im Namen Gottes fort: „Und wenn ihr mir noch so viele Brandopfer und Speiseopfer opfert, so habe ich keinen Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. (…) Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!“

Amos kritisiert nicht den Gottesdienst an sich! In seinen Augen ist es gut ihn regelmäßig im Tempel zu feiern und Gott durch Psalmgesänge und kultische Rituale zu loben.

Was diesen Kult jedoch falsch macht ist die Tatsache, dass gleichzeitig Menschen in Israel um ihr Land gebracht werden; dass Kleinbauern und ihre Familien um des Profits neuer Wirtschaftsformen willen ihren Lebensunterhalt verlieren und in Schuldknechtschaft geraten und dass das weithin legal geschieht.

Was legal ist, ist deshalb nicht automatisch legitim! Also nicht den Kult an sich kritisiert Amos in unerbittlicher Schärfe, sondern einen Kult, der in Widerspruch zu dem steht, was er sein soll und will. Nicht Recht und Gerechtigkeit statt Kult und Lieder, sondern Kult und Lieder im Einklang mit Recht und Gerechtigkeit: Darauf zielt Amos‘ Kritik ab. Denen, die Gerechtigkeit mit Füßen treten, will Gott nicht nahe sein. Gott wird gefeiert, als ob das Gottesverhältnis intakt wäre, aber niemand merkt, dass Gott bei der Feier gar nicht anwesend ist.

Recht und Gerechtigkeit kommen hier als eine von Gott herkommende, herbeiströmende, heranwälzende „Vor-Gabe“. Gott gibt diese Gabe, er schenkt den Menschen diese Gabe, die ihnen dann zur Aufgabe wird.

Wo das Gotteslob nicht zur Folge hat, dass der bedürftige Nächste ins Blickfeld des Handelns gerät, da werden Lieder für Gott zum Geplärr. Wo im Gottesdienst „Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn…“ gesungen wird, das gesungene Gebet im Alltag aber folgenlos bleibt, da gilt auch heute: „Ich (Gott) höre es mir nicht an.“ (Vers 23)

Wo liturgisch korrekte Gottesdienste gefeiert werden, in denen es nur um das persönliche Seelenheil geht und die „weltliche“ Not der Menschen ignoriert wird, fordert Gott: „Möge das Recht heranrollen wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein Fluss, der nicht versiegt.“ (V 24, Zürcher Bibel)

Wie sich Israel in Zeiten der Dürre nach den wieder heranrollenden Wassern sehnt, die blühende Vegetation und Fruchtbarkeit bringen und damit das Überleben garantieren, so sehnt sich Gott nach Recht und Gerechtigkeit, damit sein Volk (weiter)leben kann. „Sucht das Gute und nicht das Böse, damit ihr am Leben bleibt!“ (Amos 5,14) So wie ohne Wasser kein physisches Überleben möglich ist, so ist ohne Gerechtigkeit kein gutes und Gott wohlgefälliges Leben vorstellbar.

Wo der Gottesdienst ohne Verbindlichkeit für das Alltagsleben ist, da verliert er seine Bedeutung. Eine Messlatte dafür ist in der Bibel das Wohlergehen z.B. von Witwen und Waisen. Sie waren die Ärmsten und Rechtlosesten im damaligen System. Wenn es ihnen schlecht ging, dann war das soziale Gefüge aus dem Gleichgewicht geraten.

Auch heute gibt es viele Menschen, die unter jeweiligen Umständen leiden. Ihnen geben wir in unseren Gottesdiensten eine Stimme. Nicht nur im Fürbittengebet. Denn unsere Gottesdienste sollen im Einklang stehen mit dem, was wir tun. So gehören Sonntag und Alltag zusammen. So kommen wir der wunderbaren Verheißung ein Stück näher: Das Recht ströme wie Wasser und Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag!

Ihr Andreas Smidt-Schellong

Anmerkung:

Für den sozialgeschichtlichen Hintergrund des Abschnittes aus Amos 5 hat mir die folgende Literatur geholfen:

Jürgen Ebach, „Recht ströme wie Wasser“, in: In den Worten und zwischen den Zeilen: Eine neue Folge Theologischer Reden, Wittingen 2005.

Milton Schwantes, Das Land kann seine Worte nicht ertragen. Meditationen zu Amos, München 1991.