An(ge)dacht am 14. Sonntag nach Trinitatis (18.09.2022)

Eins ist’s, was Gott gesprochen,

und zweierlei ist’s, was ich vernommen…“

(Psalm 62, 12)

Liebe Gemeinde!
„Und zweierlei habe ich vernommen…“
Genau das habe ich erfahren, als ich mich mit dem Bibeltext Jesaja 12,1 beschäftigte.
Da steht in der Lutherbibel über den Zorn Gottes geschrieben:
„Möge dein Zorn sich wenden, dass du mich tröstest!“
Und in der Menge Bibel lese ich (nicht ohne ein gewisses Erstaunen):
„so hat dein Zorn sich doch wieder gelegt, und du hast mich wieder getröstet.“
Zwei ganz unterschiedliche Aussagen über Erfahrungen mit Gottes Trost bzw. mit seinem Zorn
schlagen sich in diesen Übersetzungen des Verses 1 nieder. Und das fand ich insofern
bemerkenswert, da die Menschen, an die sich dieses Wort richtete, den Trost Gottes (seine gütige
Zuwendung) zu jener Zeit noch gar nicht erfahren hatten.
Erst viel später – im zweiten Teil des Jesaja Buches – verkündet der Prophet die Worte Gottes:
„Tröstet, tröstet mein Volk.“ (Jesaja 40,1)
Ich machte mich also daran, die beiden Übersetzungen zunächst einzeln zu betrachten.
Folge ich der Logik der Aussage in der Lutherbibel, dann macht der Sprecher ganz aktuell eine
Erfahrung mit dem Zorn Gottes.
Im Zorn, so lehrt es die Schrift, wendet Gott sein Angesicht von den Menschen ab und das, so weiß
es Israel, hatte immer fatale Konsequenzen. Denn im Zorn offenbart sich die Abwesenheit von
Gottes Güte und Barmherzigkeit. Den biblischen Menschen konnte das schrecken.
Ihn konnte das noch schrecken, weil er immer mit der Wirklichkeit Gottes rechnete.
Insofern ist es verständlich, dass ein Mensch angesichts dieser Zorn Erfahrung den Trost, die
spürbare Zuwendung Gottes in seinem Leben erfleht.
Das ist sowohl verständlich als auch bemerkenswert.
Denn bei diesem Sprecher der Lutherbibel lebt die Hoffnung, dass Gott bereit ist, ihn zu trösten,
obwohl ihm bewusst ist, dass Gottes Zorn zu recht über ihn ergeht!
Karl Barth hat einmal geschrieben, dass der Zorn Gottes die Kehrseite seiner Liebe ist.
Folge ich diesem Gedanken Barths so wird in dieser Übersetzung der kühne Gedanke
ausgesprochen, Gott möge umkehren, indem Er sich dem Menschen wieder tröstend zuwendet.
Ob das geschehen wird, lässt diese Übersetzung noch offen. Aber immerhin: es darf gewünscht
werden!
Einen anderen Akzent setzt die Übersetzung der Menge Bibel.
Hier gehört die Zeit des Zorns Gottes bereits der Vergangenheit an.
Denn sein Zorn hat sich in Trost gewandelt.
Ich bekomme es also in diesen Bibelübersetzungen mit unterschiedlichen Aussagen hinsichtlich
einer Erfahrung mit Gott zu tun. Aber welche von ihnen entspricht nun der Wahrheit über Gott?
Ist er ein Gott, der bereit ist, seinen Zorn in Trost zu wandeln oder handelt es sich dabei nur um den
frommen Wunsch eines Menschen?
Meine Antwort:
In beiden Vorschlägen geht es um das Vertrauen, die Zuversicht darin, dass Gott bereit ist, sich den
Menschen barmherzig zu zuwenden. In der Lutherbibel findet dieses Vertrauen seinen
Niederschlags durch die Formulierung eines Wunsches. In der Menge Bibel findet das Vertrauen
darin seinen Ausdruck, dass es als bereits geschehen verkündigt wird.
Ich denke, dass in diesen Übersetzungen verschiedene Glaubenshaltungen zum Ausdruck gebracht
werden. In der ersten finden die Worte eines Menschen ihren Niederschlag, der noch sehr unter dem
Eindruck seiner gegenwärtigen Not steht.
Hier spricht ein Mensch, der es Gott sehr wohl zutraut, dass dieser bereit und in der Lage ist, ihn in
seiner Not tröstend beizustehen.
Indem er sein Zutrauen aber als einen Wunsch formuliert, gibt er zu verstehen, dass er die Freiheit
und Souveränität Gottes respektiert und keinerlei Anspruch auf dessen Zuwendung erhebt.
Eine etwas anders geartete Glaubenshaltung schlägt sich in der zweiten Übersetzung nieder:
Hier scheint ein Mensch zu sprechen, der im Unterschied zum ersten sich nicht mehr beherrschen
lässt von seiner bedrückenden Lage.
Möglich ist ihm das – so verstehe ich seine Worte – indem er etwas vorwegnimmt, was aber
eigentlich noch nicht eingetreten ist. Denn erst zu einer viel späteren Zeit wird er diesen Trost
Gottes erleben. Seine Worte zeigen an, dass er ganz sicher darin ist, dass Gott sich ihm wieder gütig
zuwenden wird, so sicher, dass er sich bereits jetzt schon getröstet fühlt.
Diese beiden unterschiedlichen Übersetzungen brachten in mir eine Auseinandersetzung, einen
Prozess in Gang, der um die Frage kreist: in welcher dieser beiden Übersetzungen finde ich selbst
mein Vertrauen in Gott angesichts eines Kummers oder einer Notsituation gespiegelt.
Und zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass beide – je zu ihrer Zeit – für mich zutrafen
und somit Wahrheit / Verlässlichkeit verkünden.
Pfarrerin Gabriele Steinmeier