An(ge)dacht zum vorletzten Sonntag des Kirchenjahres am 14. November 2021

Jesus sprach: Der Menschensohn wird wiederkommen in seiner Herrlichkeit mit allen Engeln.

Dann wird er sich auf seinen Herrscherthron setzen. Alle Völker werden vor dem Menschensohn versammelt. Er wird sie in zwei Gruppen aufteilen – wie ein Hirte, der die jungen Ziegenböcke von der Herde trennt.

Die Herde wird er rechts von sich aufstellen und die jungen Ziegenböcke links.

Dann wird der König zu denen rechts von sich sagen: ›Kommt her! Euch hat mein Vater gesegnet! Nehmt das Reich in Besitz, das Gott seit der Erschaffung der Welt für euch vorbereitet hat. Denn ich war hungrig,und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war ein Fremder, und ihr habt mich als Gast aufgenommen. Ich war nackt, und ihr habt mir Kleider gegeben. Ich war krank, und ihr habt euch um mich gekümmert. Ich war im Gefängnis, und ihr habt mich besucht.‹

Dann werden die Gerechten fragen: ›Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann warst du ein Fremder und wir haben dich als Gast aufgenommen? Wann warst du nackt und wir haben dir Kleider gegeben?Und der König wird ihnen antworten: ›Amen, das sage ich euch: Was ihr für einen meiner Brüder oder eine meiner Schwestern getan habt – und wenn sie noch so unbedeutend sind –, das habt ihr für mich getan.‹

Dann wird er zu denen links von sich sagen: ›Geht weg von mir! Gott hat euch verflucht. Ihr gehört in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel vorbereitet ist.

Denn ich war hungrig, und ihr habt mir nichts zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben. Ich war ein Fremder, und ihr habt mich nicht als Gast aufgenommen. Ich war nackt, und ihr habt mir keine Kleider gegeben.

Dann werden auch sie antworten: ›Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen? Oder als Fremden oder nackt? Wann haben wir nicht für dich gesorgt?‹

Da wird er ihnen antworten: ›Amen, das sage ich euch: Was ihr für andere nicht getan habt – und wenn sie noch so unbedeutend waren –, das habt ihr für mich nicht getan!‹ Auf diese Menschen wartet die ewige Strafe. Aber die Gerechten empfangen das ewige Leben.«

                                                                                                          – Matthäus 25,31–46

Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain, der Verfasser des bekannten Buches „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ hat einmal den Satz geschrieben: „Die meisten Menschen haben Schwierigkeiten mit den Bibelstellen, die sie nicht verstehen. Ich für meinen Teil muss zugeben, dass mich gerade diejenigen Bibelstellen beunruhigen, die ich verstehe.“

Ein netter Satz wie ich finde, und einer, der gut passt zu dem Bibeltext des heutigen Sonntages: das Gleichnis vom Weltgericht.

Im Mittelalter war es eine oft gelesene Geschichte. Denn wer sie auf sich selbst anwendet, der erkennt sofort: Ohje, unzählige Male bin ich schon achtlos an einem Bettler vorübergegangen. Unzählige Male war mir meine eigene Familie wichtiger als der Fremde, der in meine Stadt kam.

Die Menschen im Mittelalter haben es sofort verstanden: Unzählige Male habe ich Jesus verraten. Und wenn ich in meinem kurzen Leben meinen Herrn unzählige Male verrate, was darf ich dann noch von ihm erwarten, wenn es um meine Rettung vor dem ewigen Tod geht?

Bis hin zu Luthers Zeiten waren biblische Texte wie diese der Grund sowohl für die blanke Panik der Menschen vor dem Tag des jüngsten Gerichts, wie auch für die Macht der Kirche. Denn wer die Schlüssel zu Erlösung und Himmelreich kontrolliert, der kontrolliert die Welt der Gläubigen.

Der Maßstab, der hier aufgestellt wird, glänzt in seiner Schlichtheit: Es geht einzig und allein um das, was man tut oder lässt, und sonst nichts – sagt Jesus. Zeigt man sich barmherzig, wie Gott im Himmel barmherzig ist, dann ist man auf der sicheren Seite.

Und war man hartherzig, dann weiß man auch wo man steht.

Ich denke, das wirklich beunruhigende am Gleichnis vom Weltgericht ist die Eindeutigkeit, in der hier alles erscheint: „Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan“, sagt Jesus. „Was ihr einem von diesen Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.“

Es wird nicht gefragt: Hast du dich bekehrt? Hast du dich für Jesus entschieden? Bist du fromm genug gewesen? Es heißt nicht: Habt ihr in Familie und Gesellschaft auch immer schön auf die christlichen Grundwerte geachtet und allerlei weltliche Organisationen und politischen Schliche und Ränke als „christlich“ bezeichnet?

Jesus sagt: Man mag hier auf Erden noch so inbrünstig „Herr, Herr“ gesagt haben, man mag noch so packend und hinreißend gepredigt oder geschwiegen haben – das alles kann täuschen und blenden, dort, am letzten aller Tage, kommt es ans Licht, und alles was zählt, ist eure Barmherzigkeit euren Mitmenschen gegenüber.

Und es ist kein Wunder, dass diese Worte von Jesus kommen. Demjenigen, der als Fremder auf diese Welt kam, in einem Stall geboren, die meiste Zeit im Abseits lebend. Jesus war jemand, der die Armut und die Gemeinschaft mit den Armen gewählt hat, der sich nicht viel aus Besitz gemacht, und der sich deswegen – ganz bewusst – der Mildtätigkeit seiner Mitmenschen ausgesetzt hat.

Dieser Jesus, der selbst nichts hatte und sich völlig auf die Gnade seiner Mitmenschen und die Liebe seines göttlichen Vaters verlassen hat, der lässt sich hier hören – denn er spricht aus Erfahrung. Jesus, der während seiner kurzen Zeit hier auf unserer Erde das Leben eines Wanderpredigers wählte, kannte den Hunger, wenn niemand sein Brot teilt, kannte die Kälte, wenn niemand Obdach gewährt, und kannte den Durst, wenn niemand Wasser gibt.

Im Bild, das Jesus zeichnet, kommt die Gerechtigkeit Gottes zum Ausdruck, die die Mörder von den Opfern scheidet, die Gleichgültigen von denen, die in Hunger und Elend waren. Am Ende, so verstehen wir, wird Gerechtigkeit hergestellt, und alle Unterdrückung, alle Ausbeutung und alle Gewalt werden ein Ende haben.

Doch was sind wir nun? Schafe oder Böcke, Verdammte oder Erlöste?

Wenn das so einfach wäre! Es ist doch eigentlich immer beides in uns. Manchmal gelingt es uns, im Geist Jesu zu handeln – und manchmal gelingt es uns nicht. Unsere Grenzen, unser Versagen, unsere Schuld – all das gehört eben auch zu uns, alle dunklen wie alle hellen Seiten.

Und genau das ist es, das Menschen zur Verzweiflung bringen kann. Das kann diese Angst anschüren, am Ende doch zu den Verdammten zu gehören, die versagt haben und deswegen ins ewige Feuer wandern.

Genau solche Höllenqualen hat Martin Luther als junger Mönch erlitten, als er im Augustinerkloster in Erfurt lebte und die Angst nicht loswurde, am Ende im Gericht doch nicht zu bestehen.

Martin Luther hatte Glück. Sie alle kennen die Geschichte wahrscheinlich:  Luther hatte in seinem Kloster einen guten Seelsorger, nämlich Johann von Staupitz, einen gelehrten und bibelkundigen Mann. Er hat dem verängstigten Mönch den Weg gewiesen, der ihm schließlich der Schlüssel zum Glauben wurde. Er sagte ihm: „Schau auf Christus, der hat alles für dich getan.“

Und das sollte meinen, damals wie heute: schau nicht auf das, was dir in deinem Leben misslungen ist. Mach dir nicht ständig Gewissensbisse mit dem, was du versäumt hast, mit dem, wo du anderen etwas schuldig geblieben bist. Schau vielmehr auf Jesus Christus – er hat sein eigenes Leben für dich gegeben, und das ist viel mehr als alles, was du tun könntest!

Was bleibt nun also, von der Schreckensbotschaft des Weltgerichtes?

Ich denke zweierlei. Erstens: Unsere Fehler und Unzulänglichkeiten sind okay. Sie gehören zum Menschsein dazu.

Aber wir dürfen unser Unzulänglichkeiten nicht vergessen – wir dürfen nicht vergessen, dass wir Fehler haben. Und das passiert leider schnell: Wie oft halten wir uns für Gerechte, oder für gerechter als unsere Mitmenschen? Zu oft – die Arroganz, noch so eine menschliche Sünde – ist gnadenlos. Aber in dem Moment, in dem wir unsere eigene Schuld und unsere eigenen Unzulänglichkeiten vergessen, neigen wir auch dazu, Gott zu vergessen.

Und zweitens spricht uns die Liebe Gottes nicht von sozialer Verantwortung frei, von der Sorge um unsere Welt und um unsere Mitmenschen. Im Gegenteil: Wir sind genau dann und nur dann Kirche, wenn wir nach Jesu Vorbild handeln. Dass das manchmal längst nicht so einfach ist wie es klingt, das weiß wohl jeder von uns gut genug.

Aber wir müssen es versuchen, jetzt mehr denn je. Das sind wir nicht nur dieser Welt, sondern Gott selbst schuldig. 

Ich weiß, das ist schwierig, und vielleicht werden wir diese Welt nicht retten können, vor den Kräften, die auf ihr  ihr Unwesen treiben; vor der Gier und dem Hass und dem Neid und der Herzlosigkeit. Vielleicht ist das etwas zu viel für so unvollkommene Wesen wie uns Menschen.

Aber ich denke, jeder kann in seinem Leben einen Unterschied machen – dafür sorgen, dass diese Welt im kleinen etwas lichter, etwas heller, etwas barmherziger ist. Und damit ist schon viel erreicht.

Einen gesegneten November!

Ihr Pfarrer Simon Hillebrecht