Pfarrerin Dr. Gabi Kern
Rogate – Betet! Laut oder leise, allein oder mit anderen, frei oder mit geprägten Worten: Betet! Dazu ruft uns dieser Sonntag im Kirchenjahr, in dessen Mittelpunkt die Ermutigung zu Gebet und Fürbitte steht, in besonderer Weise auf.
Aber wie komme ich in Kontakt mit Gott? Wer sagt mir, dass nicht ungehört bleibt, was ich im Gebet zu Gott spreche? Und wie geht das überhaupt – beten?
Vielen Erwachsenen, so meine Erfahrung, fällt das Beten schwer. Andere erleben es als befreiend, ihr Herz auszuschütten oder in der Stille Gott zu suchen. Aber was tun, wenn die Worte fehlen? Wie den Anfang finden, wenn ich schon lange nicht mehr gebetet habe?
„Herr, lehre uns beten!“, bitten die Jünger im Lukasevangelium (Lukas 11,1), nachdem sie erlebt haben, wie Jesus selbst betet. Diese Bitte der Jünger ist eigentlich erstaunlich, waren sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft doch mit einer lebendigen Gebetspraxis mit festen Gebetszeiten und Gebetsordnungen von klein auf vertraut. Und doch hören wir hier aus dem Munde gestandener Männer die Bitte: „Herr, lehre uns beten!“
Jesus kommt ihrer Bitte nach. Er antwortet ihnen mit dem Gebet, das heute die Welt umspannt und dessen Worte Christen rund um den Erdball auswendig kennen. In der uns etwas vertrauteren Fassung des Matthäusevangeliums heißt es:
Darum sollt ihr so beten:
Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
(Matthäus 6,9-13)
Liebe Gemeinde, das Vaterunser, das Jesus hier seine Jünger lehrt, hat etwas Elementares, das nicht mehr aus dem Kopf geht. Es ist wie ein sicheres Geländer, an dem man sich festhalten kann, wenn die eigenen Worte nicht mehr ausreichen.
Festhalten kann ich mich schon an der Anrede, die alles Weitere ahnen lässt: Unser Vater im Himmel! Mit der größten Selbstverständlichkeit wird hier Gott, den wir nicht erforschen und nicht begreifen können, als „unser Vater“ angesprochen. Was für ein unbegreifliches Vertrauen, in dem Jesus gelebt hat und das er auch uns zutraut: Dass wir da sind und leben, ist kein Zufall, sondern wir sind gehalten von einer ansprechbaren Macht, die uns mit Liebe gewollt hat, die uns bejaht und in guten und bösen Tagen trägt. Gott, „unser Vater“.
In diesen ersten Worten des Vaterunsers ist eigentlich alles schon enthalten. Wer sich in die Hand dieses Gottes geben kann, dem verändern sich die Maßstäbe und Prioritäten im Leben. Es geht dann nicht mehr zuerst um unseren Namen, unsere Herrschaft, unseren Willen. Dreimal heißt es „dein“ – und nicht „mein“. Und dreimal heißt es „unser“ oder „wir“ – und nicht „ich“.
Umkehrung unserer Prioritäten und zugleich: Beschreibung der menschlichen Existenz ohne Wenn und Aber. Vom hungrigen, schuldigen, jede Stunde neu in Versuchung stürzenden, von allen Übeln bedrohten Menschen ist in den letzten Bitten die Rede. Von dem, der auf Brot angewiesen ist, auf Kraft und Mut jeden Tag aufs Neue; von dem, der weiß, dass es nicht möglich ist, schuldlos durchs Leben zu kommen, der aber darum bittet, anderen vergeben zu können, weil er weiß, dass auch er selbst von der Vergebung lebt; und schließlich von dem, der in Sünde verstrickt ist und unfähig sich selbst zu helfen, weil es nicht möglich ist, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen. Im Vaterunser wird das ganze Leben ausgebreitet – aber vor dem, den wir voller Vertrauen „unseren Vater“ nennen dürfen.
Das Vaterunser, das Jesus seine Jünger und damit auch uns lehrt, ist das Gebet, das alle anderen Gebete umfasst. Es müssen nicht viele Worte sein. Dieses ist genug. Es führt zum Hören auf Gott. Nicht unser, sondern Gottes Wille soll geschehen: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“
Und wenn selbst zum Vaterunser der Mut und die Kraft fehlen? Dann lasst uns auf die Kraft des Heiligen Geistes vertrauen, wie der Apostel Paulus im Römerbrief schreibt: „Desgleichen hilft auch der Geist unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen. Der aber die Herzen erforscht, der weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist; denn er vertritt die Heiligen, wie es Gott gefällt. Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind.“ (Römer 8,26-28)
Amen.
„Ich habe lange nicht gebetet. Ich hielt alles für Aberglauben oder Kinderkram.
Ich weiß auch nicht, ob es überhaupt richtig ist, dass ich bete und wie ich bete.
Ich habe so viel auf dem Herzen und kann es keinem sagen außer dir, Gott.
Du kennst mich besser, als ich mich kenne.
Manchmal denke ich, dass mich keiner richtig versteht. Ich bin mir oft selbst ein Rätsel.
Du kannst mir einen Weg zeigen, Gott, und ich bitte dich, dass du es tust.“ (EG 961)