An(ge)dacht am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres (15.11.2020)

von Pfrn. Dr. Gabi Kern

Liebe Gemeinde,

ein Helm, ein Schwert, ein zerrissenes Stück Stoff. Drei Requisiten – ein Bild. Am heutigen Volkstrauertag liegt es nahe, dieses Bild zunächst und zuallererst mit der Erinnerung an die zahllosen Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen in Verbindung zu bringen. Mag sich auch im Laufe der Zeitdie Art der Kriegsführung in ihrer äußeren Gestalt und in den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln verändert haben, so stehen Helm, Schwert und das zerrissene Stück Stoff doch nach wie vor für politisch oder auch pseudo-religiös propagierte Feindseligkeit und Hass, Gewaltbereitschaft und Zerstörung, unsägliches Leid und Tod – hier und überall auf der Welt.

Wie ein Gegenbild, wie der Traum von einer besseren Welt erscheint da jenes Bild, das der spätere Bischof Martin von Tours in der Mitte des 4. Jh.s n. Chr. mit eben denselben Requisiten als der uns bekannte „Sankt Martin“ (Gedenktag am 11.11.) uns ins Gedächtnis geschrieben hat. In der „Vita S. Martini“ des Schriftstellers Sulpicius Severus (um 420) lesen wir im 3. Kapitel: „Einmal, er besaß schon nichts mehr als seine Waffen und ein einziges Soldatengewand, da begegnete ihm im Winter, der ungewöhnlich rauh war, so dass viele der eisigen Kälte erlagen, am Stadttor von Amiens ein notdürftig bekleideter Armer. Der flehte die Vorübergehenden um Erbarmen an. Aber alle gingen an dem Unglücklichen vorbei. Da erkannte der Mann voll des Geistes Gottes, daß jener für ihn vorbehalten sei, weil die andern kein Erbarmen übten. Doch was tun? Er trug nichts als den Soldatenmantel, den er umgeworfen, alles Übrige hatte er ja für ähnliche Zwecke verwendet. Er zog also das Schwert, mit dem er umgürtet war, schnitt den Mantel mitten durch und gab die eine Hälfte dem Armen, die andere legte er sich selbst wieder um. Da fingen manche der Umstehenden an zu lachen, weil er im halben Mantel ihnen verunstaltet vorkam. Viele aber, die mehr Einsicht besaßen, seufzten tief, daß sie es ihm nicht gleich getan und den Armen nicht bekleidet hatten, zumal sie bei ihrem Reichtum keine Blöße befürchten mußten. In der folgenden Nacht nun erschien Christus mit jenem Mantelstück, womit der Heilige den Armen bekleidet hatte, dem Martinus im Schlafe. Er wurde aufgefordert, den Herrn genau zu betrachten und das Gewand, das er verschenkt hatte, wieder zu erkennen. Dann hörte er Jesus laut zu der Engelschar, die ihn umgab, sagen: „Martinus, obwohl erst Katechumen, hat mich mit diesem Mantel bekleidet.“ Eingedenk der Worte, die er einst gesprochen: „Was immer ihr einem meiner Geringsten getan, habt ihr mir getan“, erklärte der Herr, dass er im Armen das Gewand bekommen habe.“ (Aus: Des Sulpicius Severus Schriften über den hl. Martinus, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 20; Text in deutscher Übersetzung online verfügbar unter: https://bkv.unifr.ch/works/68/versions/81/divisions/45948 (abgerufen am 12.11.2020).)

Als Martin aufwacht, dämmert es ihm: Auch wenn er es in dem Moment nicht geahnt hat, stand das, was er da am Stadttor von Amiens in einem Akt menschlicher Solidarität getan hat, offenbar in einem Bezug mit dem Himmel. Der biblische Bezug jener Worte im Traum liegt auf der Hand. Im Matthäusevangelium Kapitel 25 antwortet Jesus auf die Frage, wie man etwas von ihm wissen kann, von ihm erfahren kann, damit, dass er sagt: Ich begegne euch doch ständig. In Menschen, die um euch sind. Und besonders dort, wo ihr es vielleicht gar nicht vermutet: In Menschen, denen etwas fehlt; in Menschen, die ihrer Würde beraubt sind. Wörtlich heißt es bei Matthäus: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“

Spätere dann haben andere Martin von Tours heilig gesprochen – eine Auszeichnung, mit der wir uns als Protestanten ein wenig schwer tun. Und das, obwohl doch zur „Gemeinschaft der Heiligen“, zu der wir uns im Glaubensbekenntnis regelmäßig bekennen, nach der Theologie des Apostels Paulus alle, die auf Jesus Christus getauft sind, gehören – also auch wir (aber das nur am Rande). Für die Geschichte von Martin von Tours wichtiger ist jenes: Es gibt Taten, in denen etwas vom Himmel spürbar ist. Taten, die in unmittelbarem Zusammenhang mit unserem Nächsten und in ihm mit Jesus Christus stehen. Und die gute Botschaft dieser Geschichte ist: Auch wir können in diesen Zusammenhang mit einbezogen sein. Übrigens in beiden Rollen: Als Martin von Tours und als Bettler. Als jemand, der Gutes tut. Und als jemand, dem Gutes getan wird. Wo immer dies geschieht, bleibt diese Geschichte nicht nur ein Traum von einer besseren Welt. Einer Welt, in der einer kommt, der wirklich hilft. Einer Welt, in der einer das Richtige zur rechten Zeit tut. Einer Welt, in der gemildert wird, was einem andern zu schaffen macht. Einer Welt, die Wärme ausstrahlt, wo eigentlich so viel Kälte ist. Dann ist Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene selbst mitten unter uns und rückt unser Bild von uns selbst, von dieser Welt und von Gott zurecht.

Ein Helm, ein Schwert (bzw. auf den Kopf gestellt: ein Kreuz), ein zerrissenes Stück Stoff. Drei Requisiten – ein Bild, wie es schließlich im Markusevangelium im 15. Kapitel über die Kreuzigung Jesu erzählt wird:

„Und der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Der Hauptmann aber, der dabeistand, ihm gegenüber, und sah, dass er so verschied, sprach: Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ (Markus 15,38-39)