Das Evangelium für den heutigen Sonntag steht im Markusevangelium, Kapitel 12. Es geht um das höchste Gebot:
28 Einer der Schriftgelehrten kam zu Jesus und fragte ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? 29 Jesus antwortete: Das höchste Gebot ist dies: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft« (5. Mose 6,4-5). 31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese. 32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Ja, Meister, du hast recht geredet! Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm; 33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. 34 Als Jesus sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.
Fragen stellen ist eine gute Methode, um die Welt und die Menschen kennenzulernen. Das Ziel von Schule und Bildung lässt sich geradezu daran messen, ob jemand gelernt hat zu fragen. Fragen zeigen Interesse an etwas, zeigen Lust Neues zu entdecken.
Auch Jesus ist offen für Fragen. „Welches ist das höchste Gebot von allen?“ möchte ein Schriftgelehrter von ihm wissen. Nicht bloß: Was ist ein wichtiges, sondern welches ist das wichtigste Gebot? Denn in der rabbinischen Tradition des Judentums zählte man in der Torah, in den fünf Büchern Mose 613 Gebote. Fragt sich: Worauf kommt es an und was ist nebensächlich? Probieren wir es bei uns selber aus: Viele kennen die 10 Gebote auswendig. Welches davon ist das wichtigste? Schon bei einer Auswahl von 10 fällt die Antwort schwer, geschweige denn von 613.
Jesus antwortet mit dem sog. Doppelgebot der Liebe. Er spitzt es nicht auf ein Gebot zu, sondern auf drei zusammenhängende: „Das wichtigste ist: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein. So liebe denn Gott mit Herz und Verstand, mit jedem Atemzug, mit all deiner Kraft. Das zweitwichtigste Gebot lautet: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese.“
Das Wichtigste ist die Anbindung an Gott, die Entscheidung, zu welchem Herrn man gehört. Da gilt nicht „sowohl – als auch“, sondern „entweder – oder“. In seiner Bergpredigt hat Jesus dies selbst aktualisiert und konkretisiert: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt 6,24). Entweder oder. Und daraus folgt die Nächstenliebe: Das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen soll durch und durch von Liebe bestimmt sein, die das ganze Herz, die ganze Seele, das ganze Denken und alle Kraft mobilisiert. Man kann es gar nicht hoch genug schätzen, dass Liebe den Kern im Miteinander von Gott und Mensch ausmacht. Liebe bedeutet Partnerschaft auf Augenhöhe, Vertrauensvorschuss, Großmut, Geduld, Respekt, Toleranz. Liebe ist, das Anderssein des Anderen als etwas Positives anzuerkennen, was einen selbst bereichert, anstatt darüber zu urteilen und es abzuwerten, weil es einem vielleicht fremd ist.
Jesus verknüpft die Liebe zu Gott mit Nächstenliebe. Es ist wie bei einem eineiigen Zwillingspaar. Obwohl sie zwei verschiedene Personen sind, wird man im einen Zwilling immer den anderen erkennen und umgekehrt.
Wo es um den Nächsten geht, da geht es auch um Gott. Ihn lieben heißt so werden, wie er uns erschaffen hat: als sein Ebenbild.
Die beiden jüdischen Philosophen Martin Buber und Franz Rosenzweig sagen darum auch: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du.“ So betrachtet ist das Doppelgebot der Liebe als menschliche Reaktion zu verstehen: Es ist unsere Antwort auf Gottes Ja zu uns, das er von Anfang an spricht; durch die Taufe, durch sein Treueversprechen. Die Erfüllung des Nächstenliebe-Gebotes ist uns möglich, weil wir selbst getragen und umfangen sind von Gottes Liebe.
„Höre, Israel!“ Mit diesem Zitat aus dem 5. Buch Mose beginnt Jesus seine Antwort auf die Pharisäerfrage. »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein.« Diese Worte gelten als ‚Glaubensbekenntnis des Volkes Israel‘. Sie tragen Israels Glauben wie kaum andere Worte. Sie sind der erste Text, den jüdische Kinder in jungen Jahren auswendig lernen. Es wird am Sterbebett gebetet, mit dem Schema Jisrael auf den Lippen gingen jüdische Märtyrer in den Tod.
Wann immer jüdische Menschen das Schema beten, sagen sie, was ihnen zu hören aufgetragen ist.
Höre, Israel! Was heißt das für uns, die wir keine Juden sind, die wir nicht zu Israel gehören und uns dennoch von den an Israel gerichteten Worten orientieren, weil die Botschaft des Alten Testaments auch zu unserer Bibel gehört; weil unser Glaube mit den Wurzeln des Alten Testaments verbunden ist?
Ich meine, es geht nur so, dass wir das „Höre, Israel“ umformulieren und sagen: „Höre Israel zu!“[1]
Wer Gottes Wort hören will, der muss zuhören, was dem Gottesvolk Israel gesagt ist. So gehört das „Höre, Israel“ zur ganzen christlichen Bibel. Nicht als Gegensatz und schon gar nicht als Vorstufe des Neuen Testaments, sondern als Teil der „Schrift“, auf der das Neue Testament gründet, auf der es aufbaut, auf die es verweist, die es erneuert und interpretiert. Die Worte sagen uns als Christen und Christinnen etwas, wenn wir sie als das wahrnehmen, was Israel gesagt ist und von dem wir uns auch etwas sagen lassen. „Höre Israel zu! Der Herr, unser Gott, ist der Herr allein.“ Es geht um Israels besondere Beziehung zu Gott. Und es geht darum, dass Menschen, die nicht nur an einen, sondern an diesen einenGott glauben, nur an Israels Gott glauben können.
Höre Israel zu: Der Satz hat für Menschen, die nicht zum Volk Israel gehören, eine zweifache Botschaft. Er öffnet das Bekenntnis über Israel hinaus, und er verweist Menschen, die an den einen Gott glauben, auf Israel zurück. Gott ist niemand anders als Israels Gott.
Dass Gott sein Volk Israel als erstes erwählt, „war für Christen zu allen Zeiten ein Stolperstein“ schreibt die Theologin Gabriele Scherle 2021 in ihrer UK-Auslegung. „Die Vorstellung, dass neben der Kirche Jesu Christi das erwähle Gottesvolk lebt, dem Gott die Treue hält, war schwer zu ertragen. Und so setzte sich die Überzeugung durch, dass die Erwählung auf die Kirche übergegangen sei. Damit dies auch glaubwürdig erschien, wurden jüdische Menschen gesellschaftlich an den Rand gedrängt und verfolgt. Ihr sozialer Ort sollte der Beleg dafür sein, dass Gott sein Volk verstoßen hat.“[2]
Höre Israel zu! Hätten Christen das getan, dann wäre es wohl nicht zu den schlimmen Demütigungen und Katastrophen gekommen, die den Juden jahrhundertelang angetan wurden. „Das Christentum hatte sich durch den tief sitzenden Antijudaismus selbst geistlich den Boden unter den Füßen entzogen“ fährt die Autorin fort. „Eine Kirche, die die Bundestreue Gottes zu Israel nicht glaubt, ist eine geistlich zutiefst verunsicherte Kirche. (…) Wie wir sicher sein können, dass Gott auch uns an seinem Heil teilhaben lässt,“ das herauszufinden ist immer wieder die Aufgabe.
„Am Israelsonntag geht es also auch um uns.“ Darum gilt: Höre Israel zu! Wer Gottes Wort hören will, der muss hören, was Israel gesagt ist; dass Gottes Erwählung des Volkes Israel eine feste, bleibende Gewissheit ist. Für alle Zeiten. So können wir als Christinnen und Christen religiös gelassen leben. „Wenn das gelingt, dann müssen sich Jüdinnen und Juden nicht mehr vor uns und vor dem Gift fürchten, das der Antijudaismus immer noch gesellschaftlich entfaltet“ – vor dem, was sich heute beinahe täglich abspielt.
»Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« rundet Jesus seine Antwort an den Pharisäer ab. „Kein Gebot ist größer.“
Mehr muss nicht gesagt werden. Außer: Möge Gottes Frieden, sein Geist der Gemeinschaft und der Versöhnung, der höher ist als alle Vernunft, über alle Menschen kommen und die Welt durchdringen!
Amen.
Pfarrer Andreas Smidt-Schellong
[1]Den Gedanken „Höre Israel zu!“ übernehme ich von dem 2002 verstorbenen Berliner Theologen Fr.-W. Marquardt.
[2]Gabriele Scherle, UK Nr. 32, 8.8.2021, Seite 3.