Liebe Leserin und lieber Leser!
Im Evangeliumstext für diesen Sonntag erzählt Jesus ein Doppelgleichnis. Das Thema ist Suchen und Finden, es geht um ein verlorenes Schaf und um ein verlorenes Geldstück. Lukas beschreibt, wie die Leute darauf reagieren.
Vom verlorenen Schaf
1 Alle Zolleinnehmer und andere Leute, die als Sünder galten, kamen zu Jesus, um ihm zuzuhören. 2 Die Pharisäer und Schriftgelehrten ärgerten sich darüber. Sie sagten: »Mit solchen Menschen gibt er sich ab und isst sogar mit ihnen!« 3 Da erzählte ihnen Jesus dieses Gleichnis: 4 »Was meint ihr: Einer von euch hat hundert Schafe und verliert eines davon. Wird er dann nicht die neunundneunzig Schafe in der Wüste zurücklassen? Wird er nicht das verlorene Schaf suchen, bis er es findet? 5 Wenn er es gefunden hat, freut er sich sehr. Er nimmt es auf seine Schultern 6 und trägt es nach Hause. Dann ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: ›Freut euch mit mir! Ich habe das Schaf wiedergefunden, das ich verloren hatte.‹ 7 Das sage ich euch: Genauso freut sich Gott im Himmel über einen Sünder, der sein Leben ändert. Er freut sich mehr als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben, ihr Leben zu ändern.«
Vom verlorenen Geldstück
8 »Oder wie ist es, wenn eine Frau zehn Silbermünzen hat und eine davon verliert? Wird sie da nicht eine Öllampe anzünden, das Haus fegen und in allen Ecken suchen – solange, bis sie das Geldstück findet? 9 Und wenn sie es gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und sagt: ›Freut euch mit mir! Ich habe die Silbermünze wiedergefunden, die ich verloren hatte.‹ 10 Das sage ich euch: Genauso freuen sich die Engel Gottes über einen Sünder, der sein Leben ändert.« Lukas 15,1-10 Die Bilder sprechen für sich: Jemand macht sich auf, um sein verlorenes Schaf zu suchen und freut sich, es zu finden. Dasselbe bei einer Frau und ihrem verlorenen Geldstück. Am Ende ist die Freude so groß, dass die beiden sogar ihre Freunde und Freundinnen herbeirufen, um sich zusammen zu freuen. Geteilte Freude ist doppelte Freude! Durch seine beiden Gleichnisse veranschaulicht Jesus etwas von Gottes Handeln an den Menschen. Darum erzählt er solche Geschichten aus dem Alltagsleben, die auf Menschen übertragbar und unmittelbar verständlich sind. Die Botschaft heißt: Schaut hin, so ist Gott. Er sucht die Menschen. Ahmt es ihm nach! In erster Hinsicht geht es Jesus um das Wiederfinden des einen Schafs und der einen Münze. Gott lässt es sich nicht nehmen, für dieses Eine, für jedes Einzelne auf die Suche zu gehen. Wobei man doch denken könnte: Ach, dieses Eine! Lieber bleibe ich als Hirte bei der restlichen Herde, damit mir nicht noch größerer Schaden entsteht. Und ich lasse auch die nutzlose Sucherei nach dem Geldstück. Irgendwann findet es sich schon. Ein bisschen Verlust gibt’s immer.
Gott zeigt eine andere Haltung. Er wendet sich jedem Einzelnen zu, der oder das verloren geht. In zweiter Hinsicht geht es aber auch um den Rest, um die 99 anderen Schafe und die neun anderen Silbermünzen, die die große Mehrheit bilden. Für sie gilt, was im Spruch für die neue Woche so lautet: „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. (Lukas 19,10) Die Menschen, die in der Gleichnis-Rahmengeschichte erwähnt werden, verhalten sich unterschiedlich zu Jesus. Die Zöllner und Sünder kommen zu ihm, um ihn zu hören. Die Pharisäer und Schriftgelehrten kritisieren ihn, weil er mit denen Gemeinschaft hält, auf die sie selber herabschauen. „Mit solchen Menschen gibt er sich ab und isst sogar mit ihnen!“ beschweren sie sich. Zöllner und Sünder sind für sie Outlaws. Von denen grenzen sie sich klar ab und erwarten von Jesus dasselbe. Ihrer eigenen Gruppe schreiben sie positive Eigenschaften zu und den anderen negative. So kommt es zur Abwertung und Abgrenzung. Das stärkt ihre Identität. Wenn jemand meint zu den „Richtigen“ und „Guten“ zu gehören, darf dies nicht dazu führen, dass man die Verlorenen missachtet und die Minderheit, das Einzelne vergisst.
Gott sucht die Menschen? Man mag einwenden, dass es genau umgekehrt ist. Menschen suchen Gott, suchen nach dem Sinn des Lebens; danach, was Bestand hat und trägt. Schließlich gehört das Suchen zum Wesen des Menschen. Doch Jesus dreht diese Sichtweise um. Schon der Prophet Jeremia überliefert: „Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet,“ spricht Gott, „so will ich mich von euch finden lassen.“ (Jer 29,13 f.) Jesus macht das Suchen und Finden zu einer Beziehungssache, an der beide Seiten beteiligt sind: Gott und Mensch. Darum motiviert er die Pharisäer und Schriftgelehrten, sich um das Verlorene zu kümmern bzw. um das, was sie für verloren halten.
Er kritisiert gar nicht ihren Einsatz für eine bessere Welt. Er wendet sich nur gegen das Schema der Anständigkeit, gegen diese Frömmigkeit und Moral, gegen die Herabwürdigung von Menschen, die in dem Pharisäer-Anliegen verborgen liegt. Er macht ihnen klar: „Genauso freut sich Gott über einen Sünder, der sein Leben ändert. Er freut sich darüber mehr als über neunundneunzig Gerechte, die meinen dies nicht nötig zu haben.“ (V 7)
Welche Befreiung brächte es, wenn Menschen sich von tief sitzenden Bildern und Urteilen lösen würden, die sie sich voneinander machen. Wie schön wäre es im Zusammenleben, wenn die Raster der wechselseitigen Einschätzung gelockert würden und eine neue Sicht entsteht. Hier liegt das Geheimnis dieser Gleichnisse. Sie öffnen eine neue Sicht der Menschen! Verlorene sind nicht abgeschrieben. Und die sich für gerecht halten, sind deshalb nicht privilegiert. Suchen und finden ist eine Beziehungssache, wie gesagt. Es geht um das verlorene Eine und um die 99 anderen, die allesamt auch Verlorene sein könnten.
Am Ende wird große Freude sein. Bei Gott und bei den Engeln im Himmel. (V 7.10) Das verlorene Schaf ist und bleibt ein Teil der Herde. Die Herde wäre ärmer, wenn das eine fehlt. Mit jedem Menschen, der verloren geht, fehlt ein Teil des Ganzen. Freude entsteht da, wo sie zur Gemeinschaft zurückfinden und entzweite Gemeinschaft geheilt wird. Sich vom suchenden Gott finden zu lassen ist der erste Schritt jeder Gottsuche. Wo jemand auf ihn vertraut, da wird Gottes Suche nach ihm – wie im Gleichnis vom verlorenen Schaf – zu einer Heimsuchung, zu einem Weg nach Hause.
Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag und eine gute neue Woche!
Ihr Pfarrer Andreas Smidt-Schellong
WortLaute Nr. 94 im Liederheft zum EG:
1. Wo ein Mensch Vertrauen gibt, nicht nur an sich selber denkt, fällt ein Tropfen von dem Regen, der aus Wüsten Gärten macht.
2. Wo ein Mensch den andern sieht, nicht nur sich und seine Welt, fällt ein Tropfen von dem Regen, der aus Wüsten Gärten macht.
3. Wo ein Mensch sich selbst verschenkt und den alten Weg verlässt, fällt ein Tropfen von dem Regen, der aus Wüsten Gärten macht.