An(ge)dacht am 1. Sonntag nach Trinitatis, den 11. Juni 2023

Liebe Leserin und lieber Leser!

Viele Bibeltexte sind schwere Kost, sind „wie Schwarzbrot, an dem wir lange herumkauen“ (Fulbert Steffensky). Dazu gehört auch das Evangelium für den heutigen Sonntag. Lange kauen braucht Zeit. Darum bitte ich Sie für diese An(ge)dacht, sich etwas länger als gewohnt darauf einzulassen. Betrachten wir den Text aus Lukas 16, Verse 19-31 nun in zwei Schritten:

19 Es war ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. 20 Und es war ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voll von Geschwüren 21 und begehrte sich zu sättigen mit dem, was von dem Tisch des Reichen fiel; dazu kamen auch die Hunde und leckten seine Geschwüre. 22 Es begab sich aber, dass der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben.

Gegensätzlicher können die beiden kaum sein: Hier der Mann, der nicht mit Namen, sondern nur mit dieser einen Eigenschaft benannt wird: Dass er reich ist, und schöne Kleider trägt; dass er kostbares Leinen und Purpur besitzt – teure Luxusartikel in biblischer Zeit. Er kann feiern. Er lebt auf der Sonnenseite „alle Tage herrlich und in Freuden“ (V 19).

Demgegenüber der arme Mann auf der Schattenseite des Lebens: Er wohnt als Obdachloser auf der Straße vor dem Haus des Wohlhabenden und hofft satt zu werden von den Partyresten des Reichen. Es geht noch nicht einmal um die Reste, die auf dem Tisch bleiben, sondern um heruntergefallene Brotbrocken: „Er begehrte sich zu sättigen mit dem, was von den Tischen fiel“ erfahren wir. Das sind die Brotbrocken, mit denen man sich in antiker Zeit nach dem Essen die fettigen Finger abwischte. Auf solche Abfälle ist er angewiesen. Auch gesundheitlich ist er angeschlagen: Sein Körper ist bedeckt mit Geschwüren. Die Hunde, die seine Geschwüre lecken und ihm ein wenig Linderung verschaffen, haben mehr Erbarmen mit ihm als die Menschen!

In der Geschichte wird der Kontrast zwischen arm und reich drastisch ausgemalt.

Wie mag diesem Mann, wie mag Menschen in den ärmsten Ländern zumute sein, die ganz unten sind? Die jeden Tag sehen, wie die anderen es besser haben? Wie entwürdigt mögen sie sich fühlen, immer als Bittsteller?

Bei allem, was den Reichen und den Armen voneinander trennt – eines haben sie doch gemeinsam: den Tod. Da sind alle Menschen gleich. Bei dem Reichen wird es wohl eine vornehme Beerdigung gewesen sein, bei dem Armen vielleicht ein Armenbegräbnis? Bemerkenswert ist: Der anonyme Reiche wird nurr über seinen Reichtum definiert. Der Arme dagegen hat einen Namen: Lazarus. Das heißt übersetzt „Gott hilft“, von hebräisch El ‚azar. Dass ein Armer namentlich genannt wird, ist in den neutestamentlichen Geschichten einzigartig. Das macht mich aufmerksam. Denn der Name Lazarus gehört zur Botschaft dieser Geschichte: Bei Gott ist seine Hilfe. Gott ist auf seiner Seite.

Hier überschreitet die Erzählung die Grenze des Todes.

23 Als der Reiche nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß. 24 Und er rief: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und mir die Zunge kühle; denn ich leide Pein in diesen Flammen. 25 Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, dass du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet und du wirst gepeinigt. 26 Und überdies besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, dass niemand, der von hier zu euch hinüberwill, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber. 27 Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, dass du ihn sendest in meines Vaters Haus; 28 denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. 29 Abraham sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören. 30 Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun. 31 Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstehen würde.

Jetzt in der Hölle hebt der Reiche seine Augen, was er vorher als Genießender nicht gemacht hat. Da blickte er herab auf die Dinge um sich herum. Jetzt sieht in der Ferne den lebendigen Abraham und an seine Brust gelehnt den lebendigen Lazarus, von Engeln dorthin getragen. Nach dem Tod wird alles anders für den Armen. Endlich! Die irdischen Verhältnisse drehen sich um. Alles wird gut.

Auch der Name von Abrahamgehört zur Botschaft: Er heißt „Vater des Erbarmens“. In seinem Schoß ist der Arme gut aufgehoben.

Lazarus und Abraham: Die Namenkombination mit ihren Bedeutungen ist kein Zufall. Es wäre für die biblischen Erzähler doch ein Leichtes gewesen zu sagen: Lazarus ruht im Schoß von Mose oder von Elia, David oder Salomo. Aber es ist Abraham, bei dem Lazarus jetzt geborgen ist. Lazarus, dem Gott hilft, sitzt bei Abraham, der die personifizierte Güte Gottes ist. So gehört es zusammen. Die Namen erzählen ihre eigene Geschichte.

Nun der Reiche. Man würde vielleicht erwarten, dass er jetzt einsichtig ist, dass er bereut und sich entschuldigt: Lazarus, ich habe mich schuldig gemacht, es tut mir leid! Aber nichts davon. Wie schon zu Lebzeiten an seiner Türschwelle zu Hause spricht er auch jetzt nicht mit Lazarus, kein Wort des Bedauerns oder der Umkehr. Vielmehr will er von Abraham Erbarmen ohne Umkehr.

Entbehrung ist er nicht gewohnt. Ohne ihn direkt zu bitten verlangt er von Lazarus eine Wohltat, die er ihm umgekehrt an seiner Türschwelle verweigert hatte: Nur einen Schluck Wasser! „Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er mir die Zunge kühlt“ (V 25). Er sieht in Lazarus den Lakai. Der soll ihm doch jetzt diese kleine Dienstleistung erweisen. Nichts hat sich geändert in seiner Haltung.

Abraham zieht Bilanz. Er beschreibt das Leben des Reichen und das Leben des Lazarus jedoch nicht jeweils getrennt für sich, sondern in ihrer Beziehung zueinander. Gleichberechtigt: Der Reiche hatte Gutes, Lazarus Schlimmes. Jetzt findet Lazarus Trost, während der Reiche leidet. Abraham erklärt dem Reichen diese unüberwindbare Kluft.

Wer sie überwinden und nach Belieben einfach die Seite wechseln will, wird das nicht können. Abraham spricht von „uns“ und „euch“.

Der Reiche durchschaut seine Situation und dass daran nichts mehr zu ändern ist. Jetzt bittet er für seine Brüder zu Hause. Er möchte sie nicht in der Hölle enden sehen, sondern auch bei Vater Abraham. Wieder verlangt er nach Lazarus, um sie zu warnen. Doch Abraham schlägt ihm die Bitte ab. „Sie haben Mose und die Propheten. Sie haben alles, was sie brauchen!“ Dort ist alles gesagt. Darauf brauchen sie nur zu hören, dann wissen sie, was zutun ist, um diesem Schicksal zu entgehen. Tun sie es nicht, dann hilft auch kein Wunder der Totenerweckung und wenn Lazarus sie warnt. Auch das würde sie nicht beeindrucken.

Die Geschichte hält fest: Vieles in der Welt ist ungerecht. Zugleich wird von Trost für die Armen erzählt. Für die Ohren der Betroffenen mag dies nur eine Vertröstung auf’s Jenseits sein, weil die Geborgenheit für Lazarus erst nach dem Tod beginnt. Warum wird ihm nicht schon im diesseitigen Leben geholfen? Dient die Geschichte als Ansporn zum Durchhalten der schlimmen irdischen Verhältnisse? Als Schrecken für die Reichen, um ihnen die Hölle heiß zu machen? Die Geschichte hält die Hoffnung wach: Es gibt eine ausgleichende Gerechtigkeit.

Es bleibt nicht, wie es ist. Wunden werden geheilt.

Der Reiche merkt: Es gibt ein Zuspät! Was ich zuvor versäume, kann ich danach nicht nachholen. In der Geschichte wird es offen benannt: Jetzt ist die Zeit Gottes Weisungen zu hören und sie sich zu Herzen zu nehmen!

Jetzt ist die Zeit die Not des anderen zu sehen und ihm beizustehen. Daran hatte der Reiche nicht gedacht. Darum erlebt er dieses zu spät. Darum wird er zum Bettler und nicht erhört. Denn Abraham sagt Nein. Die Sache ist entschieden. Dies wird dem Reichen jetzt zugemutet.

Bemerkenswert ist: Es wird nicht bewertet, ob Reichtum schlecht und Armut gut ist. Stattdessen ist in der Bibel kritisch davon die Rede, wie Reiche mit ihrem Wohlstand umgehen: Überall steht Gottes Weisung, die doch nur will, dass das Leben gelingt. Als Leben vor Gott und als Leben in der Gemeinschaft mit anderen Menschen. Darauf kommt es an: Auf das Hören zuerst. Und dann, dass aus dem Horchen ein Gehorchen wird. Damit das Gehörte sich in guten Taten auswirkt und die Benachteiligung nicht auf Kosten von Menschen wie Lazarus geht.

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag,

   Andreas Smidt-Schellong

Anmerkung: Bei meiner Beschäftigung mit Lukas 16,19-31 hat mir das Buch von Frank Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen, bes. Seite 115 f. geholfen.

Bild: Pixabay