An(ge)dacht am Sonntag Kantate (7. Mai 2023)

Pfrn. Dr. Gabi Kern

Singet dem HERRN ein neues Lied, denn er tut Wunder. Er schafft Heil mit seiner Rechten und mit seinem heiligen Arm. Der HERR lässt sein Heil kundwerden; vor den Völkern macht er seine Gerechtigkeit offenbar. Er gedenkt an seine Gnade und Treue für das Haus Israel, aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.

Jauchzet dem HERRN, alle Welt, singet, rühmet und lobet! Lobet den HERRN mit Harfen, mit Harfen und mit Saitenspiel! Mit Trompeten und Posaunen jauchzet vor dem HERRN, dem König! Das Meer brause und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen. Die Ströme sollen frohlocken, und alle Berge seien fröhlich vor dem HERRN; denn er kommt, das Erdreich zu richten. Er wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit und die Völker, wie es recht ist.

(Psalm 98)

Liebe Leserin, lieber Leser,

schon im Lesen dieser Worte des 98. Psalms steckt Musik. Stellen wir uns doch nur einmal vor, wie es klingen könnte, wenn aus all den verschiedenen Stimmen, die hier genannt werden, wirklich ein Lied entstünde. Was für Melodien werden da erklingen. Was für Zusammenklänge, wenn alle in das Loblied miteinstimmen. Die ganze Schöpfung wird zum Chor und Orchester zur Ehre dessen, der kommt, den Erdkreis zu richten mit seiner Gerechtigkeit und die Völker, wie es recht ist.

Manchmal, wenigstens für einige Augenblicke, kann man schon etwas von dieser Zukunftsmusik ahnen: an einem frühen Morgen vielleicht, wenn die Vögel jetzt im Frühling singend aufwachen und den neuen Tag begrüßen, wenn die Sonne mit den Tautropfen spielt und ein leichter Wind geht und alles bewegt. Oder in den kurzen persönlichen Glücksmomenten, wenn man sich plötzlich mit allem in seligem Einklang weiß.

„Ich singe mit, wenn alles singt.“ Auch Paul Gerhard weiß etwas von solchen Erfahrungen, und Joseph von Eichendorff hat sie festgehalten in einem Gedicht, wenn er schreibt: „Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort…“

Aber – und ich weiß, dass manche von Ihnen schon längst auf dieses Aber warten: Dieser ganzen soeben beschworenen Musik stehen doch ganz andere Klänge entgegen und übertönen sie meistens, wenn man die Wirklichkeit nicht völlig ausblendet. Krisengeplagt hören wir von Hass und Hohn, von Kriegsgeschrei und dem Seufzen der geschundenen Schöpfung, dass einem jeder Lobgesang im Halse steckenbleiben könnte. Wie wohltuend wäre angesichts dieser Missklänge einfach nur Stille.

Wie gesagt: Ich will diese anderen Töne nicht einfach zur Seite drängen, bloß weil sie dem Auftrag des Sonntags Kantate – „Singet!“ entgegenzustehen scheinen. Wie könnte ich auch? Aber mir ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass der Lobgesang, zu dem wir an diesem Sonntag (und eigentlich in jedem Gottesdienst) aufgerufen werden, nicht nur etwas ist für glückliche Momente oder für Naivlinge. Es ist ein Lobgesang, der nicht nur in „Frühlingsstimmungen“ jeder Art passt, sondern der noch eine ganz andere Seite hat.

Das Lob Gottes, der kommt, den Erdkreis zu richten mit Gerechtigkeit und die Völker, wie es recht ist – dieses Lob ist gleichzeitig der stärkste Protest gegen alles, was Menschen kaputtmacht. Das Lob dessen singen, der da kommt, den Erdkreis zu richten mit Gerechtigkeit und die Völker mit seiner Wahrheit, das ist in diesem Sinn tatsächlich ein Akt des Widerstands gegen alles Unrecht und alle Lüge, das ist die Weigerung, sich zu beugen oder zu unterwerfen vor Herrschern, die in ihrer Selbstherrlichkeit den Geschöpfen so viel Gewalt antun, das ist ein Spott gegen den Tod und alle, die mit ihm drohen und einschüchtern und ihre Macht sichern wollen.

In den Lobgesang Gottes einstimmen kann man also wirklich nicht nur, wenn man glücklich ist oder bisher selbst ungeschoren davongekommen ist. In ihn kann auch und gerade jeder miteinstimmen, der leidet und den die Schreie und das Weinen in der Welt nicht gleichgültig lassen. Denn das Lob Gottes singen heißt, mit der ganzen biblischen Tradition die Hoffnung hochzuhalten, dass das letzte Wort noch nicht gefallen ist über unsere Welt, heißt, sich gegen den Sog aller Teufelskreise an die Gewissheit zu klammern, dass sie uns nicht verschlingen werden auf ewig, weil Gott aus ihnen erlösen wird: „Denn er kommt, das Erdreich zu richten. Er wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit und die Völker, wie es recht ist.“ Ja, es braucht die Zusage, dass die Opfer zu ihrem Recht kommen und die Täter einmal zur Rechenschaft für ihre Taten gezogen werden. Nicht von uns, sondern von Gott: Erwird richten.

Noch mag das für uns wie ferne Zukunfts-Musik klingen, aber seit Ostern haben wir die Verheißung, dass Gottes Gericht – wie schon am Kreuz Jesu – am Ende das Böse mit Liebe überwinden wird, so dass alle, die jetzt noch seufzen und stöhnen, in Einklang kommen sollen mit Himmel und Erde und mit ihm, der alles gemacht hat. Dann wird keiner mehr das Lied vom Tod spielen, sondern alle Stimmen der Schöpfung werden sich mischen und verbinden zu dem unangefochtenen und unwiderstehlichen Gesang, der das Leben feiert.

Uns in ihn einzuüben, sind wir jetzt schon aufgefordert. Darum: Singet dem HERRN ein neues Lied, denn er tut Wunder.                                             

Amen.