An(ge)dacht zum 7. April 2024

An(ge)dacht am Sonntag Quasimodogeniti, den 7. April 2024

von Pfarrer Andreas Smidt-Schellong

         Liebe Leserin und lieber Leser!

Der alttestamentliche Text für den heutigen Sonntag steht im 1. Buch Mose, Kapitel 32. Es ist die Geschichte von Jakobs Kampf am Jabboq.

23 Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog durch die Furt des Jabboq. 24 Er nahm sie und führte sie durch den Fluss, sodass hinüberkam, was er hatte. 25 Jakob aber blieb allein zurück. Da rang einer mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. 26 Und als Jakob sah, dass er ihn nicht überwinden konnte, rührte sein Gegenüber an das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. 27 Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. 28 Sein Gegenüber sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. 29 Der andere sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. 30 Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. 31 Und Jakob nannte die Stätte Pnuël[1]: Denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet. 32 Und als er an Pnuël vorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte.

Meine Auslegung ist heute anders als gewohnt. Ich habe Jakob einen langen Brief geschrieben, in dem ich mit ihm ein fingiertes Gespräch führe:

     Lieber Jakob,

du hast eine aufregende Geschichte erlebt! Den Kampf am Jabboq. Wie du dich wohl gefühlt haben magst? Mitten in der Nacht am dunklen Wasser, dein unbekanntes Gegenüber – was für eine Herausforderung!

Vielleicht wunderst du dich, dass ich davon weiß, obwohl ich viele Jahrhunderte nach dir geboren bin. Ich kenne dich durch viele Geschichten aus deinem Leben. Sie stehen in der Bibel. Dein Gott ist auch unser Gott, das verbindet uns über die Zeiten hinweg.

Ich habe den Eindruck, als ob der Jabboq bei dir die Grenze zu einem neuen Lebensabschnitt markiert. Oder wie würdest du deinen nächtlichen Ringkampf bezeichnen? Am Ende bekamst du einen neuen Namen: Du solltest nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel. Weil du mit Gott und mit Menschen gekämpft hast. Weil du der Stammvater eines ganzen Volkes werden solltest, das mit Gott und mit Menschen kämpft. Du hattest beides in dir: Israel, den Gottesstreiter, und Jakob, den Fersenhalter. Denn bei deiner Geburt hast du die Ferse deines Zwillingsbruders Esau festgehalten, heißt es. Er kam direkt vor dir zur Welt, aber du wolltest der Erste sein.

Ich hoffe, dass ich dir nicht zu nahetrete mit solchen persönlichen Einzelheiten. Sie sind so menschlich! Darum erlaube ich mir dir weiterzuschreiben:

O wie gut ich das kenne, solche Rivalitäten mit dem Bruder, mit der Schwester! Ich habe auch Geschwister. Da gab es früher bei uns zu Hause auch Neid und Streit. Da ging es oft um den Wunsch nach Zuwendung durch die Eltern, nach Aufmerksamkeit; da ging es um Lob und Anerkennung. Du weißt schon – die kindlichen Kämpfchen halt.

Ist Leben nicht immer auch der Versuch zu überleben – physisch, seelisch, emotional? Wir beide sind uns offenbar ähnlich. Man muss geschickt sein und braucht manchmal Tricks und Mut und Zielstrebigkeit und eine gesunde Portion Egoismus, um durchzukommen. Weil man kämpfen muss oder sogar auch mal schwindelt (z.B. 1. Mose 27), um das Gewünschte zu erreichen.

Zugleich macht man sich aber auch schuldig, wenn man die anderen täuscht, sie hintergeht oder überspielt für den eigenen Vorteil. Das ist dann oft gar nicht mehr harmlos und witzig. Denn mit allen dreien muss man sich auseinandersetzen und arrangieren: Mit anderen Menschen, mit sich selber und mit Gott.

In meinem Land lebte eine bekannte Schriftstellerin, Nelly Sachs.

Sie dichtet, du seist „der Waghalsigste unter den Nachtwandlern,

getroffen von der Gotteswunde“; du seist der, „der in den Abgrund aus Licht fiel“.[2]

Getroffen von der Gotteswunde: Das Ringen mit Gott geht nicht spurlos an einem vorbei. Bei dir war es der Schaden an deinem Hüftgelenk, der dich dann lebenslang beeinträchtigte.

Andere Menschen, die mit Gott gerungen, an ihm gezweifelt, unter ihm gelitten haben, erzählen von ihren Schicksalen, von seelischen Wunden und Narben, die nicht verheilen wollten oder wollen. Möge im jeweiligen Abgrund außer Finsternis auch Licht erkennbar gewesen sein!

Lieber Jakob, das verbindet uns: Lebenserfahrungen, die einen nicht in Ruhe lassen, die uns prägen, die uns verändern im Wechsel der Zeiten. Demgegenüber steht die Sehnsucht nach Kontinuität, nach etwas Bleibendem. Uns verbindet die Suche nach dem einen Gott, der derselbe ist und der kommt und der bleiben wird in Ewigkeit. Der uns schenkt, was wir uns selber nicht geben können. Darum halten wir an ihm fest, bis … : Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. (V 27)

Lieber Jakob, in unseren Gottesdiensten und Liedern bitten wir Gott auch um seinen Segen und Frieden: „Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten.“ Zu allen Zeiten!

Du bist mutiger in deiner Wortwahl. Zupackender. Du nimmst kein Blatt vor den Mund, wenn du sagst: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Das finde ich großartig an dir, wie du Gott forderst, ihn bedrängst, ihn regelrecht zwingst und erpresst, dass du ihn erst loslässt, wenn er dir im Gegenzug seinen Segen gibt. Davon können wir heute etwas lernen: Gott in seinem Handeln so ernst zu nehmen wie du. Schließlich geht es um nichts Geringeres als um Segen! Das ist mutig von dir, wie gesagt.

Für viele meiner Zeitgenossen ist Jesus Christus der Retter, der Erlöser, der Friedensbringer, auf den sie ihre Hoffnung setzen. Er hat gelitten, er ist gestorben. Das kannst du nicht wissen, Jakob: Bei uns ging gerade die Passionszeit zu Ende, bevor kürzlich die Osterzeit begann. Stellvertretend für alle, die an Jesus Christus glauben, hat er die Schuld auf sich genommen. Er hat das Leiden der Menschen ein für allemal überwunden, glauben wir.

Mich würde interessieren: Haben die Menschen zu deiner Zeit anders gelitten? Bestimmt nicht! Kann ich mir nicht vorstellen. Also: Was macht den Unterschied? Leiden und Sterben und die unbeantworteten Fragen bleiben trotzdem ein Bestandteil unserer unerlösten Welt. Die Hoffnung auf Trost und Segen, die du auch schon hattest, ist ebenfalls dieselbe geblieben. Sie kam sicher nicht erst dadurch, weil Christen glauben, allein Jesus habe sie uns gebracht, oder?!

Das lerne ich aus deiner Geschichte, lieber Jakob: Uns verbindet diese gemeinsame Hoffnung auf Gottes Segen, auf Trost und Zukunft. Wenn doch auch wir Christen uns darin einig wären! Dann könnten wir endlich den unseligen Neid und Konkurrenzkampf mit den Juden überwinden. Dann könnten wir endlich darauf verzichten eure jüdischen Glaubenserfahrungen abzuqualifizieren zugunsten der Vorstellung, dass wir Christen angeblich besser, „richtiger“ und Gott näher sind mit unserer eigenen Glaubensgeschichte. Die Rivalität zwischen Christen und Juden, zwischen uns Glaubensgeschwistern wäre endlich zu Ende. Das wäre schön!

Eines noch zum Schluss: Du hast einen neuen Namen erhalten bei deinem Kampf am Jabboq. Eine neue Identität. Vielleicht konntest du hinterher – gestärkt durch diese Veränderung – deinem Bruder Esau begegnen und dich nach vielen Jahren mit ihm versöhnen, was vorher nicht möglich war? Das kannst du am besten selber beurteilen.

Nun hätte ich erwartet, dass du in den nachfolgenden Geschichten immer Israel genannt wirst, mit deinem neuen Namen. In vielen dieser Episoden heißt du jedoch mal Israel und mal Jakob. Haben die biblischen Erzähler das bloß verwechselt? Nein. Neuzeitliche rabbinische Ausleger sagen, mit Jakob sei dein Kindheits-Ich verbunden und mit Israel dein Erwachsenen-Ich. Mit Jakob sei deine Vergangenheit assoziiert, beim Namen Israel aber gehe es um die Gegenwart und Zukunft deines Volkes; um das Versprechen Gottes, dass er dich in Ägypten zu einem großen Volk mache; dass er dich sowohl dorthin begleitet als auch sicher nach Israel zurückbringen werde[3]. Das Land Israel ist für dein Volk ein Symbol für seine Unabhängigkeit, fahren die Ausleger fort. Diese Unabhängigkeit gehe verloren, sobald Juden ihr Land verlassen. In dem Moment nämlich, wo sie es verlassen, beim ersten Schritt in die ägyptische Sklaverei – lange nach deiner Zeit – , sind sie nicht mehr das Volk Israel, sondern werden wieder Jakob: geschwächt, abhängig von anderen, nicht autonom. Das sind die Zeiten im Exil, in der Diaspora, fern der Heimat; das sind die gefährlichen, oft lebensbedrohlichen „nächtlichen Kämpfe“, die sich später in der Geschichte des jüdischen Volkes abspielen sollten. Sobald das Volk jedoch an Kraft und Stärke gewinnt; wenn es seine Kämpfe gewinnt, seine Unabhängigkeit erlangt und aus dem Exil wieder ins Land zurückkehrt, dann trägt dein Volk den Namen „Israel“[4].

Immer wird es so gewesen sein, dass gerade in Zeiten der Schwäche, der Unterdrückung, der Verfolgung und des Zweifelns an Gott die Sehnsucht nach Trost und Segen am größten war, für jede*n Einzelne*n und für die Gemeinschaft.

Lieber Jakob-Israel! Dein Kampf geht weiter. Ich wünschte, dass das nicht so ist! Denn solche Kämpfe sind mühsam und anstrengend. Das wirst du bestätigen. Zugleich bin ich dankbar, dass uns so viel miteinander verbindet und dass deine Geschichte lebendig bleibt. Sie gibt mir Trost bei manchen Fragen und Zweifeln. Sie wird zur Hoffnungsbotschaft auch für die anderen: Bei ihrem Ringen mit Gott, beim Ringen mit seiner Gegenwart in unserer Welt – erst recht, wenn er sich im Verborgenen hält.

Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn: Anders als so werden wir mit Gott vermutlich nicht in Beziehung sein können, oder? Was meinst du?

Dein Andreas Smidt-Schellong

Lied Nr. 365   Von Gott will ich nicht lassen

Von Gott will ich nicht lassen, denn er lässt nicht von mir,

führt mich durch alle Straßen, da ich sonst irrte sehr.

Er reicht mir seine Hand, den Abend und den Morgen

tut er mich wohl versorgen, wo ich auch sei im Land.

Auf ihn will ich vertrauen in meiner schweren Zeit,

es kann mich nicht gereuen, er wendet alles Leid,

ihm sei es heimgestellt, mein Leib, mein Seel, mein Leben

sei Gott dem Herrn ergeben, er schaff’s, wie’s ihm gefällt.

Das ist des Vaters Wille, der uns geschaffen hat,

sein Sohn hat Gut’s die Fülle erworben uns und Gnad.

Auch Gott der Heilig Geist im Glauben uns regieret,

zum Reich der Himmel führet. Ihm sei Lob, Ehr und Preis!

Amen.


[1]   „Penu-El“ = Gesicht Gottes.

[2]Nelly Sachs, Gedicht „Jakob“, 1949. – In: Die Menora, Ein Gang durch die Geschichte Israels, S. 242 f.

[3]Leider kann ich die rabbinische Quelle der in diesem Absatz paraphrasierten Auslegung nicht mehr finden, die ich mir aus einem anderen Zusammenhang gemerkt habe.

[4]Der Land-Gedanke in Verbindung mit Jakob/Israel ist biblisch-theologisch gemeint und keine Deutung oder gar Rechtfertigung heutiger Israel-Politik.