An(ge)dacht am Sonntag Misericordias Domini, den 1. Mai 2022

Liebe Leserin und lieber Leser!

Der 2. Sonntag nach Ostern heißt Misericordias Domini, Barmherzigkeit Gottes.

Passend zu diesem Leitmotiv stehen biblische Texte im Vordergrund, in denen Gott als guter Hirte in Erscheinung tritt und in denen Jesus sich so bezeichnet: „Ich bin der gute Hirte, der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“ (Joh 10,11)

Zugewandt und verantwortungsvoll behütet Jesus seine Schafe. Für ihn sind sie keine anonyme Masse, sondern er kennt sie. Er kennt auch ihre Stimme, nicht nur die Schafe die seine; er führt sie zu Plätzen, wo sie alles zum Leben finden. Und dann steigert Johannes dieses Bild noch: Jesus der gute Hirte gibt ihnen das ewige Leben.

Schon viele Jahrhunderte vor Jesus spricht der Beter des 23. Psalms von Gott als dem guten Hirten. Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Er weidet seine Schafe auf saftigen Wiesen, umsorgt sie und beschützt vor Gefahren. Das Bild vom Hirten und der Herde ist uralt.

Auch der Prophet Hesekiel gebraucht dieses Motiv. Er und seine Zeitgenossen im 6. Jh. vor Chr. kennen es aus eigener Erfahrung. Auch die Übertragung ins Politische ist ihnen nicht fremd – ist es doch ein altes orientalisches Bild für weltliche Könige und deren anvertraute Völker. Im alttesta-mentlichen Text für diesen Sonntag werden das verwerfliche, egoistische Verhalten der Hirten und die bitteren Folgen für die Schafe eindrücklich erzählt. Die Könige Israels, die Hirten, sind ihrer Auf-gabe, das Volk sicher zu leiten, nicht nachgekommen. Statt nach dem Wohl der Menschen zu fragen, verfolgen sie bloß ihre eigenen Interessen, so dass am Ende die Schafe ihre Hirten weiden, nicht umgekehrt. In Hesekiel 34 sagt der Prophet:

1 Des Herrn Wort geschah zu mir: 2 Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? (…)

10 So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen. 11 Denn so spricht Gott der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. 12 Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. (…)

15 Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr. 16 Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist. (…)

31 Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der Herr.  

Hesekiel beginnt mit einem Weheruf, mit einer Gerichtsansage Gottes gegen die schlechten Hirten. „Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?“ (Vers 1)

In den ausgelassenen Versen der Perikope folgt eine drastische Schilderung von Versäumnissen der Hirten: Wie sie ihre Schafe ausnutzten, wie sie ihre Herden geschoren und geschlachtet haben. Wie sie sich nicht um die kümmern, die ihre Zuwendung besonders gebraucht hätten. Die Schwachen überlassen sie ihrem Schicksal, die Starken verpflichten sie auf diktatorische Weise zu Zwangsleis-tungen. Weil kein Hirte da ist, zerstreuen sich die Schafe.

Hesekiel beschreibt das Bild von versprengten Schafen, die auf Bergen, Hügeln und in der Ebene umherirren und so ein leichte Beute für die wilden Tiere werden. Die „wilden Tiere des Feldes“ sind die fremden Völker, die sich des Volkes Israel bemächtigen und es in Gefangenschaft führen. Die Verantwortung liegt in erster Linie nicht beim Volk, wie Hesekiel mehrmals hervorhebt, sondern bei denen, die es hätten leiten müssen. Doch da war niemand, der es suchte oder nach ihm fragte.

Die Herde ist Gottes Herde. Sie ist „sein Eigentum“. Es sind „meine Schafe“ betont Gott, während er sich mit einer Schwurformel zum Handeln verpflichtet. Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden!“

Zuerst wird Gott die Hirten ihres Amtes entheben. Er wird die Schafe retten und sie sozusagen aus deren Maul reißen. Sie sollen keine Hirten mehr sein! Erst wenn die alten Hirten von der Bühne der Geschichte verschwunden sind, kann es einen Neuanfang geben und die Schafe kommen in den Blick. Diese Heilsverheißung beginnt mit einem ICH. „Siehe, ICH SELBST will mich meiner Herde annehmen und sie suchen“ spricht Gott. (V 11) Er macht die Sorge um sein Volk zur Chefsache. Ab jetzt wird er selbst das Hirtenamt ausüben.

Richtig verstandene Hirtensorge ist das aufrichtige Interesse an Menschen, an ihrem Lebensweg und ihrer Lebensgeschichte. Ohne Hintergedanken und ohne fragwürdige Absichten. Gott selbst führt die Menschen dorthin, wo es Lebensfülle gibt.

Das Klischeebild vom Hirten, der vorangeht und dem die Herde nachfolgt, geht an der Wirklichkeit vorbei. Ein guter Hirte geht nicht vor der Herde, sondern hinter ihr. Von dort behält er alle Tiere im Blick. Von dort merkt er, wenn ein Schaf verlorengeht. Demgegenüber sind die Schafe nicht so dumm, dass sie ohne Hirten völlig hilflos wären. Es gibt tatsächlich Beispiele, wo Hirten im Gebirge in dichtem Nebel von ihrer Herde an Abgründen vorbei zum Ziel geführt wurden.

Vor zwei Wochen hörten wir die Osterbotschaft: Gott verändert die Welt durch die Auferweckung seines Sohnes. Heute, durch die Bilder vom Hirten und von der Herde ist der Hesekielabschnitt eine Präzisierung der Bedeutung von Ostern, wie ein Blick in die neue, künftige Welt Gottes. Nämlich als Gewissheit, dass Menschen sich bei Gott bergen können und nicht in den Abgründen des Lebens zugrunde gehen.

Ich wünsche Ihnen alles Gute für diese nachösterliche Zeit: Bleiben Sie wohlbehalten!

Foto: www.kirche-ahnatal.de               

Ihr Andreas Smidt-Schellong

Foto: pietro, Wolf im Schafspelz. Fotomontage