Schoah-Gedenkgottesdienst in der Jakobi-Kirche

Nicht mit uns!“ heißt die unglaubliche Geschichte der jungen jüdischen Familie Frankenstein, die das Grauen des Nationalsozialismus überlebte. 2008 wurde sie als Buch veröffentlicht.
Sie lebten u.a. in Berlin, widersetzten sich der Verfolgung und gingen in den Untergrund. Ohne Papiere, ohne Geld, ständig auf der Flucht von Versteck zu Versteck erlebten sie das Kriegsende mit ihren zwei kleinen Söhnen – mutig und mit der solidarischen Hilfe anderer Menschen.
Im biografischen Teil des Schoah-Gottesdienstes wird ihre Geschichte erzählt. Nach einer Ansprache über die Notwendigkeit des Gedenkens folgt das Gedenken der 6 Millionen Opfer aus der NS-Zeit: jüdischer Menschen sowie anderer verfolgter Gruppen aus der damaligen Bevölkerung.
Wir laden Sie ein diesen Gottesdienst online mitzufeiern.
Pfarrer Andreas Smidt-Schellong

Liebe Gemeinde,

der 27. Januar ist ein besonderes Datum: Er ist der Gedenktag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27.1.1945. Aus diesem Anlass haben wir in der Herforder Jakobi-Kirche einen Gottesdienst aufgezeichnet, den man über unsere Gemeinde-Homepage online mitfeiern kann: www.herfordmitte.de

Nicht mit uns!“ heißt die unglaubliche Geschichte der jungen jüdischen Familie Frankenstein, die den Schrecken des Nationalsozialismus überlebte. 2008 wurde sie als Buch veröffentlicht. U.a. in Berlin überlebte die Familie mit ihren zwei kleinen Söhnen den Schrecken des Nationalsozialismus – mutig und mit der solidarischen Hilfe anderer Menschen.

Im biografischen Teil des Schoah-Gottesdienstes erzählen wir ihre Geschichte. Nach einer Ansprache über die Notwendigkeit des Gedenkens folgt das Gedenken der 6 Millionen Opfer der NS-Zeit: jüdischer Menschen sowie anderer verfolgter Gruppen aus der damaligen Bevölkerung.

Nachfolgend Textabschnitte aus diesem Gottesdienst:

Verse aus Psalm 74

Gott, warum verstößest du uns für immer und bist so zornig über die Schafe deiner Weide? Gedenke an deine Gemeinde, die du vorzeiten erworben und dir zum Erbteil erlöst hast, an den Berg Zion, auf dem du wohnest.

Sie verbrennen dein Heiligtum, bis auf den Grund entweihen sie die Wohnung deines Namens. Sie sprechen in ihrem Herzen: Lasst uns sie ganz unterdrücken! Sie verbrennen alle Gotteshäuser im Lande. Warum ziehst du deine Hand zurück? Nimm deine Rechte aus dem Gewand und mach ein Ende! Gedenke an den Bund; denn die dunklen Winkel des Landes sind voll Frevel. Lass den Geringen nicht beschämt davongehen, lass die Armen und Elenden rühmen deinen Namen.

Mach dich auf, Gott, und führe deine Sache; denk an die Schmach, die dir täglich von den Toren widerfährt. Vergiss nicht das Geschrei deiner Feinde; das Toben deiner Widersacher wird je länger, je größer.

Biografische Lesung: 

Berlin 1941. Die gerade zwanzigjährige Leonie Rosner und der siebzehnjährige Walter Frankenstein begegnen sich im Auerbach’schen Waisenhaus im Bezirk Prenzlauer Berg.

Er ist Halbwaise und lebt, seit er 1936 als Jude die Schule verlassen musste, in diesem Haus. Sein Onkel und Vormund hatte ihn bei den „Auerbachern“ untergebracht, wie die Heimbewohner sich selbst nennen. Inmitten der feindlichen Außenwelt ist das  Waisenhaus ein Refugium für die dort lebenden etwa 200 jüdischen Kinder und Jugendlichen. In dem Buch „Nicht mit uns!“ beschreibt Walter Frankenstein dies so: „Wir wohnten dort wie auf einer geschützten kleinen Insel. Wir haben die Verfolgungen bis zur Pogromnacht 1938 gar nicht so richtig mitbekommen. Davor hatte ich etwa zur Hälfte christliche und jüdische Freunde. Da war kein Unterschied zwischen beiden Gruppen. Doch seit dem 30. Januar 1933, dem Tag der Machtergreifung Hitlers, war es damit vorbei.“

Leonie Rosner wächst in Leipzig auf und ist als Vierzehnjährige begeistert von der Idee der Auswanderung nach Palästina. Ihr Wunsch, eine Ausbildung als Kindergärtnerin zu machen, bleibt ihr verwehrt, weil sie Jüdin ist. Sie geht nach Berlin. „Sie war ein lebenslustiges Mädchen, ging gerne tanzen, hörte mit Begeisterung Jazz-Musik. Sie traf sich mit ihren Freundinnen und (…) war eine kämpferische junge Frau.“

Als Leonie und Walter sich im Herbst 1941 kennenlernen, verlieben sie sich sofort heftig ineinander. „Wir verabredeten uns mitten in der Nacht in der Waisenhausküche und tanzten Walzer auf den großen kalten Herdplatten in der Mitte des Raumes, ganz ohne Musik“ erinnert sich Walter Frankenstein.

Er überredet Leonie dazu, den Judenstern, den seit September 1941 alle Juden ab 6 Jahren im Deutschen Reich tragen müssen, abzunehmen. Das ist streng verboten. Sie gehen im Park spazieren und auf einen Rummelplatz und trinken Bier. Auch das ist verboten. „Wir waren so jung und frech und hatten einfach keine Angst“ erzählt Walter Frankenstein.

Im Februar 1942 heiraten sie. Ein Jahr später wird ihr Sohn Peter-Uri geboren. Zu dem Zeitpunkt muss die junge Familie in ein „Judenhaus“ in Berlin-Mitte ziehen.

„In den Tagen der sogenannten Fabrik-Aktion, Ende Februar, Anfang März 1943 wurden rund 11.000 Menschen in Berlin verhaftet. Die zwangsarbeitenden Juden wurden an ihren Arbeitsstellen überrascht: Die Gestapo mit Verstärkung von Einheiten der Waffen-SS holten sie von den Maschinen weg, noch in Arbeitskleidung, ohne Gepäck, Waschzeug und Verpflegung, und brachten sie in Lastwagen zu den Sammelstellen. Alte Menschen und Kinder überraschte man in ihren Wohnungen. Auch sie bekamen noch nicht einmal Zeit zum Packen. Am Tag, bevor wir abgeholt werden sollten, mussten wir in ein anderes Quartier umziehen und die Gestapo wusste unsere neue Adresse noch nicht. Als ich etwas später wieder zur Arbeit erschien, kam mir der Polier entgegen und fragte mich: Was machst du denn hier? Siehst du nicht, dass außer dir niemand mehr da ist?‘ Er ging telefonieren, um zu fragen, was mit mir geschehen soll. Da bin ich abgehauen, nach Hause zu meiner Frau. Jetzt wird es Zeit!‘ sagte ich. Kurzerhand entschlossen wir uns, mit unserem Sohn in den Untergrund zu gehen.“

Walter und Leonie Frankenstein hatten großes Glück – und sind entschlossen, sich ihr Leben nicht nehmen zu lassen. „’Nicht mit uns!‘ ergänzt Leonie Frankenstein Wir haben uns für’s Untertauchen entschieden, weil wir beide Optimisten waren.“

„Pessimismus und Angst“, fällt Walter Frankenstein seiner Frau ins Wort, „das sind die schlimmsten Feinde von Menschen, die illegal leben müssen. Angst riecht man. Du kannst sie bei Menschen an ihren Bewegungen und in ihrem Handeln erkennen. Ich hatte eine enorme innere Sicherheit, die mich niemals verlassen hat. Wir waren jung und mutig, ja, aber wir hatten auch sehr, sehr viel Glück und gute Freunde.“

Walter und Leonie Frankenstein mit Kind gelingt nacheinander die wegen der vielen Kontrollen gefährliche Zugfahrt nach Leipzig zu Leonies Verwandten. Sie verschwinden aus der Öffentlichkeit. Walters Verdienst aus illegaler Gelegenheitsarbeit ist die einzige Einnahmequelle der jungen Familie.

Nachdem Leonies Mutter nach Auschwitz deportiert wird, geht es wieder zurück nach Berlin. Dort gab es mutige Freunde, Bekannte und gänzlich Unbekannte, „stille Helden und Heldinnen“, die der Familie halfen, ihnen ein Dach über dem Kopf anboten und mit ihnen die Lebensmittelkarten teilten.

Als das letzte Versteck ausgebombt war, verbirgt sich Leonie Frankenstein unter dem Namen einer „Arierin“, einer früheren Schulfreundin, in einem brandenburgischen Dorf. Weit weg von ihrem Mann und in gefährdeter Existenz bekommt sie ihr zweites Kind, Michael.

Nachdem die Adresse ihrer momentanen Unterkunft auffliegt und sie mit beiden Kindern nach Berlin zurückkehren muss, gelingt der Familie das scheinbar Unmögliche: Sie überleb die letzten Kriegsmonate und den Nazi-Terror bei Prostituierten, in einer leer stehenden Wohnung und zuletzt in einem Bunker der Berliner U-Bahn.

Alle anderen Familienangehörigen fielen dem Massenmord zum Opfer.

Ansprache über das Gedenken / Erinnern

Liebe Gemeinde, es ist gut, einen Gottesdienst wie heute zu haben. Es ist gut, die Erinnerung wachzuhalten an jene Zeit und der Opfer zu gedenken.

Der Religionsphilosoph Abraham Heschel sagt: Gedenken und sich erinnern machen Zukunft erst möglich.

Für das eigene Gedenken können wir aus dem Judentum etwas lernen: In der Hebräischen Bibel kommt das Wort „gedenken/erinnern“ mehr als 200mal vor. Mal kann es „erinnern“  sein, also „etwas in den Sinn bringen / sich ins Gedächtnis holen“. Mal ist es mit anderen Worten verbunden, die zum Handeln aufrufen als Konsequenz des Erinnerns. Mal hat das „in Erinnerung rufen“ die Bedeutung von „verkünden“. In diesem Sinne ist das Erinnern mehr als eine bloße intellektuelle Gedächtnisübung. Es hält etwas in der Welt gegenwärtig und lebendig. Der bekannte zeitgenössische Rabbiner Jonathan Magonet nennt ein Beispiel: „Wenn die Bibel uns auffordert, uns daran zu erinnern, dass unsere Vorfahren Gefangene in Ägypten waren, sollen wir für uns selbst die ganzen Verflechtungen der Sklaverei, die wir verlassen, und der Befreiung, die wir gewinnen, erfahren. Das Wort „Erinnerung“ steht parallel zum Wort „Name“. Im biblischen Denken steht der Name für die Identität und die tatsächliche Gegenwart einer Person, der man gedenkt.“ Dadurch wird Erinnerung konkret.

Im Judentum geht es beim „Erinnern“ also nicht nur darum, der Vergangenheit zu gedenken. Vielmehr geht es darum, die Vergangenheit in einer dynamischen Beziehung zur Gegenwart zu halten, und dies richtet sich auf die Zukunft hin. Der Rabbiner fährt fort:

„Wenn wir während des Sederabends vor dem Passafest die Befreiung aus Ägypten neu erfahren, erfüllen wir eine doppelte Aufgabe. Auf einer Ebene versuchen wir tatsächlich, das Leben der Sklaverei wieder zu erfahren, auf dass wir die Freiheit, die wir erlangt haben, besser verstehen und mehr schätzen. Aber wir persönlich waren nicht Sklaven in Ägypten, und von daher, wenn unsere Tat des Erinnerns mehr sein soll als ein leeres Ritual, müssen wir auf einer anderen Ebene die Bedeutung jener Sklaverei auf uns selbst erforschen, ob sie aufgrund unserer eigenen individuellen Erfahrung oder aus der kollektiven Erfahrung des jüdischen Volkes heraus relevant ist. Die Anerkennung, dass wir Sklaven waren, (…) zwingt uns zu fragen, wie diese Sklaverei die Menschen, die wir heute sind, und das, was wir folglich tun, beeinflusst. Die Bibel fordert die Israeliten wiederholt dazu auf, sich daran zu erinnern, dass sie Sklaven in Ägypten waren, weil befreite Sklaven dazu neigen, das erlittene Leid“ weiter zu tradieren, zu konservieren, „zu verewigen, d.h. zu Menschen zu werden, die wiederum andere versklaven. (…) Wir sollen uns daran erinnern, dass wir Sklaven in Ägypten waren, damit wir nicht zu einem neuen Pharao werden“ und die anderen unterdrücken. Die Passahfeier sollte zu dem Prozess gehören, der ‚das Meistern der Erinnerung‚ (Gabriel Josipovici) als Ziel hat. Es ist eine bleibende Herausforderung an unser Land, solch eine verwandelnde Aufgabe auf sich zu nehmen.“ Denn:

„Erinnern ist der erste Schritt zur Erlösung“ – auch zur Erlösung der anderen! So kann man es formulieren. So weit die Äußerungen von Rabbiner Magonet.

Was tragen die jüdischen Einsichten und diese Art des Erinnerns für uns heute aus?

Kommen wir zum Schluss noch einmal zu Walter Frankenstein. Auf die Frage „Herr Frankenstein, was versuchen Sie jungen Deutschen zu vermitteln und mit auf den Weg zu geben?“ antwortet er 2018 als über 90-jähriger in einem Interview:

„Den jungen Leuten sage ich: Denkt selbst, lasst euch nicht durch die Phrasen von Neofaschisten und anderen Demagogen beeindrucken! Meine Familie hat nur überlebt dank solcher Menschen, die selbst gedacht und nicht auf Hitler gehört haben.“

Auf das Gedenken und Erinnern bezogen heißt das: Ihr jungen Leute habt aus den Erzählungen eurer Eltern und Großeltern oder von den ganz Alten, die es noch selber erlebt haben, vom Grauen des Nationalsozialismus gehört. Ihr wisst also Bescheid. Vergesst das nie!

Und wenn irgendwo solches Gedankengut wieder aufkommt, wenn irgendwo fremdenfeindliche Aktionen passieren, dann seid wachsam! Denkt selber! Mischt euch ein und tut etwas dagegen! Lasst es nicht zu, sondern findet euer eigenes „Nicht mit uns!“ – Das ist die erste Grundregel, die Walter Frankenstein an die nachwachsende Generation weitergibt.

Und als zweite wichtige Grundregel resümiert er: „Wenn Menschen in Not sind, muss man ihnen helfen. Beide Regeln zu fördern“, sie zu verinnerlichen „und dadurch etwas zu verändern, das liegt mir am Herzen.“

Pfarrer Andreas Smidt-Schellong

 

Liedstrophe (Melodie von „O Haupt voll Blut und Wunden“, EG 85)
Dass wir doch nicht vergessen, woraufhin wir gemacht:
dass tief in unsern Herzen ein neues Licht erwacht!
Der Geist, der überdauert, erstehe in uns neu,
dass unsre liebe Erde noch nicht verloren sei.
Huub Oosterhuis

Literatur

Nicht mit uns. Das Leben von Walter und Leonie Frankenstein, aufgeschrieben von Klaus Hillenbrand, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2008.

FOCUS-Online-Interview mit Walter Frankenstein am 7.8.2014, Folge 1 und 2.

Mitwirkende:
Pfarrer Andreas Smidt-Schellong, Dr. Julia Ruprecht, Dr. Bertram Ruprecht, Margarete Döldissen-Beckmann
Wolf-Eckart Dietrich, Orgel

Ev.-Luth. Kirchengemeinde Herford-Mitte
in Kooperation mit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Herford e.V.
und dem Kuratorium Erinnern Forschen Gedenken e.V. Gedenkstätte Zellentrakt, Herford

Zum Nachlesen als pdf: