JOHANN SEBASTIAN BACH:
O MENSCH BEWEIN DEIN SÜNDE GROSS
Orgelchoral BWV 622
‚CORONA DI SPINE‘
Bach komponiert hier eine musikalische „Dornenkrone“ die in sich schon den Balsam trägt um den Schmerz der Wunden, die sie selber reißt zu lindern. Eine ganz andere „Corona“ also gerät in diesen Tagen ins Blickfeld und gewinnt mehr und mehr an Aufmerksamkeit,
die „Corona di spine“, die Dornenkrone.
Der Dorn an sich ist in der Bibel tief verwurzelt. Im Alten Testament werden in Genesis 3, 18 dem Adam „Dornen und Disteln“ verheißen, als Lohn für seinen Genuß der verbotenen Frucht. Später in Exodus 2, 3-4 wird der ‚Brennende Dornbusch‘ zum Symbol für die unverbrüchliche Gegenwart Gottes, für seine unausgesetzte Zusage und Nähe, die die irdisch-materiellen Gesetze jederzeit zu überwinden vermag. Der Dornbusch brennt lichterloh und bleibt doch in seiner Substanz unangetastet.
Jesus selbst schlägt später den Bogen aus dem Alten ins Neue Testament, vom Dornbusch zu Ostern, wenn er in Lukas 20, 36-37 auf dieses Dornbusch-Geschehen als Symbol der Auferstehung und des Ewigen Lebens verweist: „Denn sie können hinfort auch nicht sterben; denn sie sind den Engeln gleich und Gottes Kinder, weil sie Kinder der Auferstehung sind…“
Mitten im Passionsgeschehen in Matthäus 27, 29 nun die Dornenkrone.
Die Krone, ursprünglich königliches Symbol der Würde, der Autorität und Prachtentfaltung, wird an Jesus Christus zum Zeichen tiefster Demütigung und vorwegnehmender Verwundung auf dem Weg ans Kreuz von Golgatha, auf dem Weg in den Tod, in die Auferstehung, auf dem Weg in den Sieg des Lebens über den Tod.
Genau in diesem Zentrum der Leidensgeschichte sehen wir Bachs Passionchoral „O Mensch bewein dein Sünde groß“.
In seiner berühmten Orgelbearbeitung hat Bach die Choralmelodie derartig stark verziert, ausgearbeitet und mit musikalischem Rankwerk und ornamentaler Ziselierung an Durchgangs- und Wechselnoten verflochten, daß uns beim Hören die ursprünglich klare, in einfachen Viertelnoten daherkommende Melodie leicht abhanden kommt. Dafür aber werden wir reich entschädigt, es entsteht bei näherem Hinhören das Bild einer vielfach gewundenen, und sich über die Ursprungsmelodie erhebenden Krone aus Tönen.
Die Choralmelodie erscheint uns durch zahllose musikalisch-ornamentale „Dornen“ geschmückt und dabei ins schier Unendliche erweitert. Das extrem langsame Tempo das Bach hier vorschreibt lautet Adagio assai, und bedeutet soviel wie extra langsames Adagio, in den Schlußtakten zu Adagissimo gesteigert. Tempobezeichnungen die in Bachs Gesamtwerk höchst selten zu finden sind.
Dabei steht das Stück in einem sehr milden, und von geradezu warmen Farben getragenen Es-Dur. Die Harmonik dieser Musik ist enorm weit verzweigt, bewegt sich in weit entlegene Gebiete, weg von dem zu Grunde liegenden Es-Dur, und windet sich in dicht gearbeiteten, teils chromatischen Schritten und Linien, sodaß auch in dieser Dimension das Bild eines dichten Flechtwerks entsteht.
Dornenkrone und Balsam vereinen sich.
Gemeint ist in diesem Choral offenbar eine tiefgreifende, vielleicht sogar an mystische Versenkung grenzende Meditation über die Passion, innerhalb derer uns das Bild einer aus kleinsten Notenwerten gewundenen, weit verzweigten und dicht gearbeiteten Melodie in Form einer Krone entstehen kann.
Zu hören jetzt hier in einer live-Aufnahme, Wolf-Eckart Dietrich am 7. April an der Orgel der St. Jakobi Kirche Herford.